Potztausend Grandezza!

■ Madame Lothár, Bremens Travestiestar, ist gestern 60 geworden und Zarah Leander lebt und gratuliert

Sitzen Sie mal an einer unterirdisch schönen Bar, eingeklemmt zwischen Zarah Leander und Madame Lothar, dann wissen Sie plötzlich, daß das die berühmte Stunde sein muß, die einem einmal im Leben schlägt. Und da sitzt man nun zwischen lauter schierer Schönheit und grausam wird einem klar, daß man gar kein Rouge aufgelegt hat.

Es würde auch nicht viel nützen, denn verkleidete Männer sind sowieso die besseren Frauen. Und schöner auf eine bleiche Weise. Vermutlich, weil sie allein die Idee „Frau“ verkörpern können, eine Art reine Lehre von Schönheit, Spiegel und Nagellack.

Was heißt aber „Frauen“: erst jetzt weiß ich, was eine Dame wäre, wenn es noch Damen gäbe. Und eine Dame ist eine Mischung aus Halbseide, Glacewitz und Johannes Heesters; eben eine wie "Cristina", Ganzkörperdame und berühmte Zarah- Leander-InterpretIn, ursprünglich aus Amsterdam. Seit Tagen tritt sie in Madame Lothars glitzerndem Höhlenkeller auf und macht aus der kleinen Halbwelt eine große ganze. Cristina ist ein Geschenk. Das hat Madame Lothar zwar uns, aber auch sich selbst gemacht. Denn gestern ist Bremens erster und einziger Travestiestar tatsächlich 60 geworden.

Vier Meter unter der wohlgeordneten Klaustrophobie des Schnoor regiert die einzige Bremer Königin die Nacht und ist so freundlich halbseiden und anständig anzüglich, daß man auch Tante Berta mitnehmen kann und trotzdem noch einen kleinen verruchten Schauder davonträgt. Leichthin beherrscht sie die Grandezza der Lächerlichkeit im Takt des Playbacks, und eigentlich sollte dieser Artikel nur ihr gewidmet sein. Nun setzt eben Cristina allem noch eine Krone auf.

Vor 7 Jahren hat Madame Lothar angefangen mit der Travestie, die ihr nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden ist. Koch oder Kellner wäre der Lieblingsberuf der Eltern gewesen, aber eben nicht ihrer. Nach Jahren als Wirt und Conferencier hat sie im Micmac in der Albrechtstraße ihre ersten Travestie-Sporen verdient. Und auf einmal ist sie 60. Nach eigenen Angaben hat sie keine Quatschkrankheiten, außer ein bißchen Arthrose, und kuckt immer noch aus den gleichen Augen.

Bloß das Playback, das verbiegt den Kehlkopf. Den hat sie sich mal zeigen lassen von ihrem Halsnasenohrenarzt und sehen müssen, daß da zwei Lappen vor den Stimmbändern immer auf und zu gehen und quasi bis zum Lebensende Muskelkater garantieren. Aber in echt singen geht auch nicht, wenn man nicht nur Nana Mouskouri, sondern auch die Callas mit ihren dreieinhalb Oktaven auf der Pfanne haben will. Durchaus war Madame Lothar auf der berühmten Essener Folkwang-Schule, sogar bei Kurt Jooss, Tänzerlegende. Heute noch tritt sie als Primaballerina auf, allerdings fliegt sie nicht in den Himmel, sondern macht den Pummelschwan.

Nein, ein anderer Mensch wird man nicht, trotz der Verwandlung, da ist sich Madame sicher. Schon eher ist es harte Arbeit, und die Füße tun einem weh. Wer mit beiden Pumps fest auf biegenden Brettern stehen will, der muß eine gute Stahlsohle im hohen Schuh haben. Daß es im früheren Leben, deutlich hörbar im Ruhrpott entsprungen, öfter ziemlich dunkel aussah, davon spricht Lothar Gräbs nur, wenn öffentliche Ohren ausgeschaltet sind. Außerdem erzählt er viel zu gerne lustige Geschichten. Und wer nicht gesehen hat, wie man eine Federboa so über den Arm hängt, daß sie wie eine Einkaufstasche aussieht, dazu ein trägerloses Paillettenkleid am Körper, das die starken Oberarme hervorhebt, der weiß nicht, was er verpaßt hat.

Am Schluß einer jeden Show zieht sich Madame Lothar die Perücke vom Kopf und singt das Lied vom bißchen Leben, das man unbedingt lieben muß. Und wie sie so dasteht, oben der Männerkopf mit dem gefährlichen Lidschatten, unten die funkelnde, selbstentworfene Sterntalerrobe, da möchte man sofort das Leben lieben und lachen und weinen gleichzeitig. Und warum auch nicht: Wenn alle mehr heulen würden, gäb's weniger Brillen, sagt Madame Lothar. Eine Zigeunerin hat ihr geweissagt, daß sie 70 werden würde. Aber an so Quatschsachen glaubt eine wie Madame Lothar nicht. Wir auch nicht. Lang soll sie leben und hoch. Claudia Kohlhase