Nirgendwo zu Hause

■ „Mr. Notebook“ Cees Nooteboom über Reise und Literatur

Der renommierte niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom („Die folgende Geschichte“, „Rituale“, „Berliner Notizen“) ist für seine Romane und Reisefeuilletons durch die ganze Welt gefahren. Mit Nooteboom unterhielten sich Michael Allmaier und Stefan Brunn.

taz: Herr Nooteboom, stimmt es, daß man Sie in Amerika Mr. Notebook nennt?

Cees Nooteboom: Nun ja, diesen Scherz habe ich mir selbst erlaubt.

Aber ein Notizbuch haben Sie wirklich immer dabei?

Immer.

Und wenn Sie nach Hause kommen, machen Sie daraus ein Buch.

Manchmal dauert es auch einige Jahre, bis ich die Erfahrungen einer Reise verarbeitet habe. Meine erste Fahrt nach Surinam zum Beispiel.

Wann war das?

1957, aber das ist eine lange Geschichte. Ich war in ein Mädchen verliebt. Ich wollte sie heiraten, aber dazu brauchte man in jenen Tagen noch die Zustimmung des Vaters, und der lebte in Surinam. Also heuerte ich auf einem kleinen Schiff an und bediente die Matrosen. Es war eine Plackerei. Dieses Erlebnis konnte ich erst jetzt in einem Buch verarbeiten.

Wie ging denn die Geschichte aus?

Der Vater stimmte nicht zu, aber ich habe sie trotzdem geheiratet. Wir blieben acht Jahre zusammen.

Man sagt, daß manche auf einem Spaziergang mehr sehen als andere auf einer Weltreise. Wie kann man auf Reisen denn mehr erleben?

Die meisten riskieren nicht genug, um etwas zu erleben. Wenn Familie Schmidt mit 300 Mann nach Teneriffa fliegt, kommt sie nur in eine andere Art Deutschland mit Bild und Bratwurst.

Warum gibt sie dann so viel dafür aus?

Teils aus Snobismus – um vor den Nachbarn anzugeben –, teils aus Langeweile, um einmal im Jahr aus der Höhle Büro herauszukommen. Da will man einmal etwas anderes. Aber so anders ist es gar nicht. Enzensberger hat geschrieben, das Auto sei das Rudiment des Nomadismus. Wenn ich aber meine Zeitgenossen ansehe: die haben das Auto, um abends wieder genau dahin zu kommen, wo sie morgens losgefahren sind.

Die Aufgabe der Reiseliteratur ist es doch, dem Leser das Neue am Urlaubsziel zu zeigen. Warum gibt es bei Ihnen so wenig Neues?

Bei mir gibt es mehr Neues als in vielen abgeschriebenen Reiseführern. Und ich schreibe keine Reiseführer, sondern Literatur. Allerdings schreibe ich für Leser, die bereit sind, sich Mühe zu geben.

Normalerweise soll Reiseliteratur das Fremde näherbringen. Ihre Bücher scheinen aber eher das Bekannte zu verfremden.

Das sind dann aber keine bewußten Verfremdungen. Als Außenstehender sehe ich die Dinge einfach anders. Zum Beispiel kann ich die mexikanischen Pyramiden nicht beschreiben, ohne an die Rituale zu denken, bei denen den Opfern das Herz herausgeschnitten wurde. Aber ein Mexikaner würde sagen, daß ich das auf eine verfremdete Art sehe.

Sie haben sich einmal einen „verdrietige reiziger“ genannt. Soll das heißen, daß sie auf Reisen traurig sind?

Eigentlich heißt es mehr melancholisch. Melancholisch werde ich beim Abschied – aber auch beim Wiedersehen. Wenn man nach zwanzig Jahren an einen Ort der Dritten Welt zurückkehrt und von den Versprechen der Regierung nichts, aber auch gar nichts eingelöst worden ist.

Das klingt enttäuscht. Gibt es Reisen, die Sie bereut haben?

Eigentlich nicht. Ich war als junger Mann beim Volksaufstand in Ungarn. Ich sah die Leichen der Geheimpolizisten auf den Straßen, denen man Geld in den Mund gestopft hatte. Überall war dieser Kriegsgeruch, und die Menschen fragten mich: wann werdet ihr uns helfen? Natürlich wußte ich, daß keine Hilfe kommen würde. Ich hatte ein Gefühl des Verrats, diese Leute im Stich zu lassen. Aber selbst diese Reise habe ich nicht bereut.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, seßhaft zu werden?

Ja, ich wüßte nur nicht, wo. Vielleicht auf dem Land? Dann hätte ich mehr Zeit zum Schreiben. Menschen kennenzulernen ist nicht mehr so wichtig für mich.

Wirkt sich das nicht auch in Ihren Büchern aus? Oft sind da die Menschen nur Beiwerk.

Das glaube ich nicht. Ich gehe nicht in die Fabriken und spreche nicht mit den Arbeitern. Ich schreibe keine Sozialreportagen. Aber ich beobachte die Menschen und nehme an ihrem Leben teil.

Trotzdem bleiben die Reisenden in Ihren Büchern Fremde?

Fremd, meine ich, bleibt man immer auf Erden.

Wo fühlen Sie sich denn zu Hause?

Nirgendwo. Das Ziel ist nicht das Zuhause. Das Ziel ist die Reise.