Taktische Finessen statt wilder Kräfte

■ Eishockey-WM: Die mit großen Hoffnungen gestartete Schweiz hat in drei Spielen kein Tor geschossen und das Viertelfinale schon fast verpaßt

München (dpa) – Vor Jahresfrist der größte Triumph, jetzt am Rand des Abgrunds – die Eishockey-Auswahl der Schweiz erlebt bei der Weltmeisterschaft bittere Stunden. Die Abstiegsrunde droht, und nicht wenige prophezeien sogar den Verlust der Erstklassigkeit. Das hochgesteckte Ziel, den im Vorjahr in Prag mit dem vierten Platz geglückten Vorstoß in die Weltelite zu bestätigen, haben die Schweizer schon nach drei Vorrundenspielen verfehlt. Der amerikanische Cheftrainer Bill Gilligan hatte es schon vorher geahnt: „Ich habe davor gewarnt, uns selbst zu überschätzen. Wir gehören nicht zur Weltspitze.“

Die Pfiffe und Buhrufe, mit der Schweizer Fans die 0:6-Abfuhr gegen die Russen quittierten, hatten Gilligan wehgetan. „Aber sie hatten recht. Wir haben hier schlecht gespielt“, gestand der 38jährige. Ohne Torerfolg in drei Spielen in Folge waren die Schweizer zuletzt 1964 beim Olympia-Turnier in Innsbruck geblieben. Ein schwerer Schlag für den leicht zu Überheblichkeit neigenden Emporkömmling, der sich nach dem 2:2 gegen Rußland in der Vorrunde 1992 und dem 3:1-Viertelfinalsieg über Deutschland in eine gefährliche Euphorie manövriert hatte.

Das „Wunder von Prag“ war eine zu schwere Hypothek für die Schweizer, die sich in der Verbandsbroschüre für die WM 1993 „als eine der traditionsreichsten und stärksten Eishockey-Kulturen Europas“ feiern. Das Fehlen eines Vollstreckers und die mangelnde Spielpraxis der Cracks aus Lugano und Bern, die in diesem Jahr schon früh im Playoff ausschieden, mögen Gründe für das Scheitern sein. Am gravierendsten aber waren wohl die unterschiedlichen Auffassungen der veranwortlichen Trainer. Während Assistent John Slettvoll (48), im Vorjahr noch Chef, den in Prag erfolgreichen „Schweden-Kreisel“ weiterdrehen wollte, betrat Gilligan Neuland. Seine Philosophie: „Wir müssen konstrukiver werden, das eigene Spiel forcieren statt das des Gegner zu zerstören.“

Gilligans Ansprüche waren zu hoch für eine Mannschaft, die ihr Handwerk versteht, aber daraus keine Kunst machen kann. „Wir haben den Kopf so voll von taktischen Finessen, daß wir unsere Hausaufgaben vergessen“, sagte Torhüter Tosio: „Die Mannschaft ist total verunsichert. Die Freude am Spiel, am einfachen Eishockey ist weg. Mangelhafte Scheibenkontrolle, ungenaues Paßspiel und schwaches Powerplay sind die Folgen.“ Schädlich war aber auch, daß Gilligan die Mannschaft von „wilden Kräften“ wie den Defensiv- Haudegen Andreas Beutler und Luigi Riva sowie den Offensiv- Draufgängern Mario Brodmann und Keith Fair säuberte.

In Torlaune kommen dagegen langsam die Nordamerikaner. Kanada gewann gegen Österreich 11:0, wobei Eric Lindros drei Tore schoß, und die USA hatten keine Mühe, Frankreich mit 6:1 zu bezwingen. Da auch Norwegen gegen Finnland verlor, ist das deutsche Team nun sicher für das Viertelfinale und damit auch für die Olympischen Winterspiele 1994 in Lillehammer qualifiziert.

Gruppe B: USA–Frankreich 6:1 (3:1, 1:0, 2:0), Finnland–Norwegen 2:0 (0:0, 0:0, 2:0); Tabelle: 1. Tschech. Republik 5:1; 2. Finnland 5:1; 3. USA 4:2; 4. Deutschland 4:2; 5. Frankreich 0:6; 6. Norwegen 0:6

Gruppe A: Rußland–Schweiz 6:0 (2:0, 1:0, 3:0), Kanada–Österreich 11:0 (6:0, 2:0, 3:0); Tabelle: 1. Kanada 6:0 Punkte; 2. Rußland 5:1; 3. Schweden 4:2; 4. Italien 3:3; 5. Schweiz 0:6; 6. Österreich 0:6