Der archaische Haß auf die Stadt

Eine Essay-Sammlung über den Krieg gegen die Städte in Exjugoslawien  ■ Von Thomas Schmid

Die Warnungen, die er in seine früheren Texte unbewußt eingebaut hat, nimmt Bogdan Bogdanović erst jetzt wahr. Heute erkennt der serbische Architekt und Urbanologe, daß ihn seine eigenen stummen Ankündigungen hätten beunruhigen müssen. Doch nun ist es zu spät. Vukovar und Mostar sind zerstört, Sarajevo und Dubrovnik schwer verletzt.

In zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen hat der frühere Belgrader Bürgermeister, heute einer der radikalsten Kritiker des serbischen Nationalismus und der Regierung von Slobodan Milošević, immer wieder vom unablässigen Kampf zwischen Stadtliebe und Stadthaß als Triebkraft des Aufstiegs und Falls von Zivilisationen gesprochen. Die alttestamentarischen Verfluchungen der Städte, das Niederreißen der Mauern von Jericho, die Zerstörung Jerusalems, die Brandschatzung Alexandriens, die Plünderung Roms, die Bombardierung Vukovars können als Ausdruck dieses ewigen Hasses auf die Stadt angeführt werden. Doch weshalb dieser geradezu atavistische Haß?

Die Stadt, doziert Bogdanović in einer unter dem Titel „Die Stadt und der Tod“ im März erschienenen Sammlung von Essays, ist Kristallisationsort zivilisatorischer Entwicklung. Erst das Entstehen der Städte ermöglichte es dem Menschen, sich selbst in der Retrospektive zu sehen und die Ströme seines eigenen Schicksals zu erfassen. Die Stadt ist „eine spezifische, starke, supralinguale Schrift – eine komplexe Ideographie“, letztlich ein großes, einzigartiges Erinnerungsdepot. Man müsse, so der Architekt, die Menschen wieder die Fertigkeit des Städtelesens lehren. Der Städtezerstörer nämlich hat eine archetypische Angst vor der Komplexität dieses semantischen Gebildes aus Geist, Moral, Sprechweise, Geschmack, Stil.

Da jede Stadt in Stein, Architektur, Umgangsformen, Kultur geronnene Geschichte ist, ist die Zerstörung der Stadt immer auch Zerstörung von Erinnerung, und deshalb zerstören die modernen Barbaren auch die Friedhöfe, die Städte der Toten, Stätten voll angehäufter „fremder“ Erinnerung, voll okkulter, unverständlicher Botschaften.

Der aktuelle Krieg entpuppt sich somit auch als Krieg um die Vorherrschaft von Erinnerungen. Das fremde Gedächtnis muß ausgelöscht werden, deshalb auch die systematische Zerstörung der Kirchen, Moscheen, historischen Bauten, Bibliotheken des Feindes, damit die eigene Erinnerung– und sei sie auch ein reines Phantasieprodukt, eine Vorstellung geraubter Größe und versäumter Vollendung – unumschränkt walten kann. Schon lange bevor dieser Krieg der Erinnerungen im früheren Jugoslawien in voller Schärfe ausbrach, schrieb Bogdan Bogdanović in einem Aufsatz, er wünsche sich, eine künftige Verfassung möge mit dem Satz beginnen: „Vor dem Gesetz sind alle Erinnerungen gleich.“

Ein gewisser, mitunter gespenstischer Hang zu Prophezeiungen, die sich dann auch noch bewahrheiten, ist dem langjährigen Architekturdozenten an der Universität Belgrad und Architekten zahlreicher über ganz Exjugoslawien verstreuter Denkmäler jedenfalls nicht abzusprechen. Mitunter ist der Professor dann selbst verblüfft. So hat er die Zerstörung Vukovars in einem Monument, das er in der Nähe der Stadt für die Opfer des Faschismus erbaute, schon 1977 unbewußt vorweggenommen. Wie und was das mit Goethes Italien- Reise vom Mai 1787 zu tun hat, erfährt der Leser im Vorwort und in einem Essay, der sich ohne ein einziges Wort über neun Seiten hinwegstreckt.

Bogdan Bogdanović: „Die Stadt und der Tod“. Wieser-Verlag, Klagenfurt 1993, 66 Seiten, 18,50 Mark