Das Lächeln des Weltalls Von Mathias Bröckers

Warum erwähnt Homer in seinem Epos über die Reisen des Odysseus nicht ein einziges Mal die Farbe des Himmels, wo das grandiose Blau über den Küsten Griechenlands und Kleinasiens doch geradezu danach schreit? Warum taucht die Farbe des Firmaments in der Rig Veda und anderen östlichen Mythen genausowenig auf wie in der Bibel, deren über 400 Himmelsbeschreibungen allesamt farblos blieben? Bewußtseins- und Sprachhistoriker haben für das Rätsel eine einfache Erklärung gefunden: die Farbe Blau war vor einigen tausend Jahren, als diese Mythen entstanden, einfach noch unbekannt, ebenso wie die meisten anderen Farben auch. Für die ersten mit Sprache und damit menschlichem Intellekt ausgestatteten Primaten machte das Blau des Himmels, das Grün der Wiesen, das Braun der Erde oder das Rot des Sonnenuntergangs keinen Unterschied – sie hatten keine Worte dafür. Der sich herausbildende Farbsinn kannte zu Anfang nur zwei Unterscheidungen, „Schwarz“ und „Rot“, wobei „Schwarz“ alle Blau- und Grüntöne und „Rot“ das Spektrum von Weiß bis Gelb mit einschloß. Erst in den letzen 2.500 Jahren ist aus dieser ursprünglichen Farbenblindheit die ganze Facette von Farbnuancen hervorgegangen, die unsere Sinne heute wahrnehmen und unterscheiden können.

Dieses Beispiel hat der amerikanische Psychologe Richard M. Bucke seinem Buch „Kosmisches Bewußtsein – Die Evolution des menschlichen Geistes“ vorangestellt. Seit seinem ersten Erscheinen 1901 ist das (gerade als Insel- Taschenbuch herausgekommene) Werk zu einem Klassiker der Bewußtseinsforschung geworden. Kosmisches Bewußtsein hat für Bucke weder mit Okkultem oder Mystik zu tun, noch tut er die Erleuchtungs-Erlebnisse als Halluzinationen ab. Vielmehr behandelt er das Phänomen als einen klar definierbaren psychisch- geistigen Zustand, das „plötzliche Erwachen eines neuen, nämlich kosmischen Sinnes“. Das sich aus dem einfachen Bewußtsein der höheren Tiere entwickelnde Ichbewußtsein des Menschen, der selbstreflektierende Geist, ist für Bucke nicht der Endpunkt der Evolution, sondern der Ausgangspunkt einer höheren Bewußtseinsstufe, auf die sich die gesamte Menschheit zubewegt – und die die Erleuchteten aller Zeiten als Vorläufer bereits erreicht haben. Als Indiz für die Realität der neuen Sinneswahrnehmung wertet Bucke die Tatsache, daß die Berichte über die Erfahrung des kosmischen Bewußtseins in ihren wesentlichen Zügen vollkommen übereinstimmen, gleich ob sie von Moses oder von Sokrates, von Jesus oder von Francis Bacon, von Buddha oder von Dante stammen. Wenn nun der sechste Sinn des Menschen tatsächlich auf die Wahrnehmung eines spirituellen Kosmos, auf das „Lächeln des Weltalls“ (Dante) ausgerichtet ist, warum wurden die 2.500 Jahre seit Buddha nicht genutzt, diesen Sinn so zu entwickeln wie etwa die Farbwahrnehmung? Wir haben so wenig Worte dafür wie unsere archaischen Vorfahren für das Blau des Himmels. Und im Unterschied zu ihnen ist uns, laut Laotse, auch nicht damit gedient, einfach welche zu erfinden: „Das Tao, über das gesprochen werden kann, ist nicht das eigentliche Tao“.