Erzählungen aus einem fernen Land

■ Wolfgang Thierse, SPD-Ossi, über die deutsche Krise und den sozialen Frieden

„Das Urteil über das falsche Gesellschaftssystem der DDR darf nicht zum Urteil über die Biographien der Menschen aus der DDR führen“. Wolfgang Thierse, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und einer der wenigen bekannten Bundespolitiker mit DDR-Vergangenheit, warnte am Mittwoch abend beim dem Katholischen Forum in der St.-Johannis-Schule vor einer weiteren TeilungDeutschlands.

„In den nächsten fünf, zehn, zwanzig Jahren wird es für die Politik in Deutschland kein Wachstum, sondern Lasten verteilen zu geben. Damit muß sich die Demokratie im Westen zum ersten Mal in wirklich schweren Zeiten bewähren. Und im Osten müssen wir Konfliktfähigkeit lernen.“ Was ihn erstaune, sei die „ungeheure Ruhe“, die in den Jahren seit der Vereinigung im Osten geherrscht habe: „Wenn im Westen ein paar Tausend Arbeitsplätze verloren gehen, erzittert — und das völlig zu Recht — das Land. Im Osten sind in der letzten Zeit Millionen von Jobs verlorengegangen — und es ist ruhig!“.

Im Streik der Metallarbeiter im Osten sieht Thierse diese Ruhe erstmals erschüttert: „Wenn diese Menschen jetzt gedemütigt werden, dann wäre Resignation noch die harmloseste Konsequenz; ich befürchte dann allerdings eine Radikalisierung.“

Der Geburtsfehler der deutschen Einheit sei die Unehrlichkeit der westdeutschen Politiker und die schonungslose Übertragung westlicher Standards auf den Osten gewesen, trug Thierse in geschliffener Rede vor. Von den Wessis forderte er Bereitschaft zur Selbstkritik: „Den Ossis wird das ohnehin täglich abverlangt“. Eine Chance zur Teilnahme sieht er für den Osten nur, wenn im Westen wieder eine grundstzliche Diskussion über die Gesellschaft anfange wie vor dem Mauerfall. Von den Ossis forderte einen „zweiten Mut“: „Ich glaube, daß wir mit unseren Erfahrungen von Mangel eine unfreiwiliige Kultur der materiellen Bescheidenheit praktiziert haben, von der der Westen lernen kann.“

Bernhard Pötter