Hupen, Schreien und Fenstereinschlagen

■ Nach Solingen: Jugendliche Türken machten ihrer Wut und Angst in Syke und Bremen Luft

Rund 150 bis 200 junge Türken haben am Montagabend gegen Mitternacht in der Bremer Innenstadt ihrer Wut über die Morde in Solingen Luft gemacht. Mit etwa 50 Fahrzeugen fuhren sie, rote Ampeln mißachtend, zum Hauptbahnhof. Mit Baseballschlägern schlugen einige auf den Wagen eines Bremers ein, der sie auf die Verkehrsregeln aufmerksam machen wollte, und verletzten ihn erheblich im Gesicht. Auch Fensterscheiben wurden auf dem Weg zur City eingeschlagen. Vor dem Hauptbahnhof kam es zu einer kleinen Kundgebung, aus der heraus, ein Polizeifahrzeug und Beamte angegriffen wurden. Einer erlitt einen Daumenbruch. Die Beamten nahmen zwei Türken vorläufig fest, beschlagnahmten diverse Schlagwerkzeuge und zwei Schußwaffen. Gegen drei Uhr hatten sich alle wieder zerstreut.

Den Bremer Vorfällen waren zweitägige Auseinandersetzungen in Syke vorausgegangen. Angefangen hatte alles damit, daß ein aus Weimar zugezogener Skinhead aus seiner Wohnung in der Syker Straße Dör de Wisch am Sonntagabend auf ein vorbeifahrendes Auto mit türkischen Insassen eine Bierflasche geworfen hatte. So stellt jedenfalls Sykes stellvertretender Revierleiter Wilhelm Greve den Gang der Ereignisse dar. Nach einem heftigen Wortgefecht versuchten rund 20 junge Türken, in die Wohnung des Skins einzudringen. Durch Gespräche konnte die Polizei eine Eskalation verhindern. Auch die Rechtsradikalen fügten sich einer Zwangsandrohung und räumten die Wohnung.

Am Pfingstmontag jedoch standen erneut Skinheads auf dem Balkon, hißten die Reichskriegsflagge und sannen auf Rache. Aus dem ganzen Umland würden sie Verstärkung bekommen, taten sie kund. Nicht nur der örtliche Runde Tisch gegen Ausländerfeindlichkeit hatte über sein Notruf-Telefon Leute aktiviert, auch rund 180 sehr erregte junge Türken fanden sich im Laufe des Nachmittags in Syke ein. Die Autos stammten, so der Polizeibeamte Greve, aus dem gesamten norddeutschen Raum. Da sich die Skins mit nur 20 Leuten in der Minderheit sahen, baten sie die Polizei um ihre Anwesenheit. Während sich die 180 Türken noch bei einem Lokal sammelten, konnten die Skinheads offenbar verschwinden.

Die 180 Türken glaubten den Beamten nicht, daß die Wohnung leer war, und waren entschlossen, sie zu stürmen. Mithilfe einiger besonnener, etwas älterer türkischen Männer, so Einsatzleiter Greve, gelang es, die Menschenmenge zum Abziehen zu bewegen. Nach einer Demonstration durch die Innenstadt, bei der nur eine Scheibe zu Bruch ging, fuhr der Konvoi Richtung Bremen.

Mit der Syker Szene von rechten und türkischen Jugendcliquen soll das wenig zu tun haben. Wahrscheinlich glaubten die jungen Türken, einen Kristallisationspunkt der rechten Szene entdeckt zu haben. In Syke gebe es aber nicht mehr rechte Jugendliche als anderswo, sagt die Jugendhausleiterin. Die evangelische Gemeinde bemüht sich seit einiger Zeit, einen Kontakt zu ihnen aufzubauen.

Andrea Müller vom Lidice- Haus wundert sich gar nicht über diesen Ausbruch von Wut und Angst bei türkischen Jugendlichen. Schon nach Mölln sei eine Beruhigung nur mithilfe autonomer Jugendlicher und besonnener Eltern erreicht worden. Damals war im Fernsehen immer nur ein einziger junger Mann gezeigt worden, der sagte „Jetzt schlagen wir zurück“, doch im Grund hätten schon damals viele diese Einstellung gehabt, so Müller. Zumal jetzt, nach der Änderung des Asylgesetzes und nachdem die Deutschen so schnell über Mölln hinweggegangen seien.

Außerdem seien viele türkische Jugendliche noch desorientierter und entwurzelter als ihre deutschen Altersgenossen, so Müller. „Die jungen Leute sind uns entglitten“, sagt auch der türkische Honorargeneralkonsul Karl Grabbe. Er fordert Streetworker, die mit jenen „Halbstarken“ arbeiten, die durch Jugendheime nicht gebunden sind. „Wenn wir es nicht schaffen, ihnen eine Identität zu vermitteln, dann entgleiten sie uns völlig.“.

Trotz der Ablehnung von Gewalt, viele erwachsene Türken haben Verständnis für die Reaktion der Jugendlichen. Wie sonst sollen die Jugendlichen reagieren als durch Hupen und Schreien, fragen sie, Türken hätten schließlich keine Abgeordneten, die sie ansprechen könnten. Chr. Holch