: Der Aufstand war keine Sonntagsprozession
■ Bericht von Edgar Schulz, im Juni 1953 als Elektriker in der Stalinallee beschäftigt, über die Ereignisse: Um die Normenerhöhung ging es überhaupt nicht mehr, wir wollten nur frei sein...
Ich will nicht über den 13. Juni reden, an dem auf einer Dampferfahrt erstmals das Wort „Streik“ fiel, nicht über den 16. Juni, an dem der Block 40 zum Haus der Ministerien zog und die zehnprozentige Normenerhöhung zurückgenommen wurde. Da war ich nicht dabei. Ich rede nur über den blutigen 17.Juni. Ich war damals 25 Jahre und in der Stalinallee verantwortlich für Block 40 und die umliegenden Baustellen vom VEB Bau. VEB Bau waren 1.700 Menschen, darunter zwölf Elektriker.
Am 17. hatten wir frühmorgens eine Versammlung. Der Personalchef Richard Riss, später nannte sich das Kaderleiter, der Betriebsgewerkschafts-Vorsitzende Schmidt sowie der Betriebsdirektor kamen, um eine Rede zu halten. Sie wollten uns erzählen, daß der Minister für Erzbergbau, Fritz Selbmann, die Normenerhöhung zurückgenommen hat. Aber wir waren ja junge Leute und nicht so gemütlich wie heute, wir waren ja richtig hart. Also ging es spontan los mit der Schreierei, ihr Schweinehunde, Kommunistenviecher usw. Die Atmosphäre war irrsinnig aufgestachelt. Irgendwann reichte es, und wir marschierten einfach los, so ungefähr 50 Leute in Richtung Stalinallee. Es goß wie wahnsinnig. Und als wir drauf waren, kamen schon die anderen vom Block C, Süd und Nord und vom Block G, Nord und Süd. Alles Schlosser, Elektriker und jede Menge Zimmerleute. Die meisten waren noch gar nicht umgezogen, die gingen los, wie sie waren, mit Holzpantinen und Werkzeugen. Mit denen sind wir zum Strausberger Platz. Da war der VEB Industriebau. Da haben wir gegröhlt wie die Blöden und haben die animiert. Erst wollten sie nicht mitkommen, die Poliere und Meister haben sie festgehalten, aber dann sind sie doch gekommen. So sind wir über den Alex, vorbei am FDGB-Haus in der Wallstraße. Da haben wir geschrieen: „Warum habt Ihr Euch verrammelt, weil Euch die Angst am Arsche bammelt“. Eine ganze Masse sind zum Brandenburger Tor, da wurde die rote Fahne runtergeholt. Es ging auch am Postministerium vorbei, weil einige sagten, da würde der Ulbricht oben stehen. Stimmte aber nicht. Um die Normenerhöhung ging es uns überhaupt nicht mehr, das war schon eine totale Nebensache. Die Hauptsache war die Freiheit. Wir haben nur gegröhlt, wir wollen frei sein, wir wollten genauso Menschen sein wie die anderen auch alle. Aber das war nicht verabredet, es war überhaupt nichts verabredet, es gab auch keinen einzigen, der eine Idee gehabt hätte, wie es besser zu machen ist. Nischt war, es lief einfach.
Wir sind also vom Brandenburger Tor zum Ministerium. Zwischendurch haben wir ein paar Grenzübergänge am Potsdamer Platz angezündet. Ich hatte so ein Eisen mit (zeigt historisches Foto), damit haben wir die kleinen Buden aufgeknackt, das ging ganz einfach. Das Eisen hatte ich nicht von der Baustelle mitgenommen, um was kaputt zu machen, sondern das war in meiner Elektrotasche, die ich immer mithatte. Unterwegs hatten wir damit auch eine HO-Bude aufgebrochen, wir hatten ja Hunger, waren ja seit frühmorgens unterwegs. Jedenfalls kamen wir zum Ministerium. Dort standen wir rum, bis vielleicht ein Uhr. Plötzlich kamen aus der Zimmerstraße russische Panzer angefahren, fünf Stück. Einer machte die Klappe auf und guckte. Da sah er die vielen Leute und machte aus Angst gleich alles wieder dicht. Ein anderer Panzerfahrer hatte nicht so Angst, den wollte ich aufklären, ich kann ja gut Russisch, aber er zuckte nur mit den Achseln.
Da haben wir angefangen, das Haus des Ministeriums zu stürmen. Wir sind auch bis zum ersten Stock und haben dort ein bißchen Feuer gelegt. Aber dann fingen die an, von innen zu schießen, und so sind wir raus. Da kam von irgendwoher ein ganzer Trupp Volkspolizisten, die sangen „Brüder zur Sonne, zur Freiheit, ans Licht“. Die haben wir voll verprügelt, ganz brutal. Das war keine Sonntagsprozession, das ging richtig ab. Aber jetzt kam die Volkspolizei auch aus dem Ministerium. Ich glaube, fünf Mann. Die hielten ihre MGs in die Menge und schossen. Einfach so. Die Leute fingen an zu schreien, überall standen doch Menschen, wir hatten keinen Meter zum Laufen. Einer wurde getroffen, den haben wir rüber in den Westen geschleppt, nach Tiergarten. Ich hielt ihn an den Händen, ich weiß nicht, ob er schon tot war. (Edgar Schulz hält sich die Hände vor das Gesicht und fängt an zu weinen.) Ich wollte drüben ausreißen, am Potsdamer Platz und in der Leiziger Straße knallte es überall. Aber als ich schon drüben war, schrieen andere, „hier sind noch welche“, und da bin ich wieder zurück. Und so haben wir noch einen rübergeschleppt. (Um und auf dem Potsdamer Platz gab es bis zum Abend drei Tote und 64 Verletzte. Anm. der Red.)
Am nächsten Tag bin ich zurück in den Osten und habe mich dort acht Tage versteckt. Als alle nicht mehr so aufgeregt waren, bin ich nach Hause. Da kam die ganze Betriebsgewerkschaftsleitung an. Die wollten, daß ich nach Rummelsburg fahre, um mitzuhelfen, meine Kollegen zu befreien. Die Russen hatten dort so um 600 vom VEB Bau eingesperrt. Ich spreche ja Russisch, genauso gut wie Deutsch, und gegen das Versprechen, mich nicht festzuhalten, habe ich dann übersetzt und die Leute rausgeholt. Alle, die ich kannte.
Bis zu meiner Pensionierung im Februar 1989 habe ich dann weiter im Osten gelebt. Ich wäre ja gerne in den Westen gegangen, aber wie? Meine Frau hatte im April 1953 einen Sohn gekriegt, meine Schwiegermutter war schwer krank. Es ging nicht, und später bekam ich wegen dem 17. Juni nie eine Reisegenehmigung in den Westen. Politisch ließ man die Leute vom Block 40 in Ruhe. Wenn ich im Fernsehen sah, wie im Westen der 17. Juni im Grünen gefeiert wurde und die Politiker rumtönten, kam es mir hoch. Erst hätte ich am liebsten alles kaputtgeschlagen, später wurde ich nur noch bitter. Ich habe mich immer im Stich gelassen gefühlt.
Aufgeschrieben von Anita Kugler
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