: Kaum ein Baum am Straßenrand
■ Serie: Berlins schlimmste Straßen (16): Nach Meinung von Experten muß die Skalitzer Straße sofort saniert werden, doch der Senat verlängert sie nach Osten
„Ich sitz' dir gegenüber...“, trällerten die Darsteller im Musical „Linie 1“ über die allmorgendliche gemeinsame U-Bahn-Fahrt mit den immer gleichen Unbekannten. „...und schau an dir vorbei“, lautete der Text weiter, doch genau dieses Wegsehen wurde bei näherrückendem Happy-End überwunden. Das ist auch durchaus ratsam, denn wenn sich die Linie 1 ihrem Ende in Kreuzberg nähert und entlang der Skalitzer Straße fährt, dann sollten die Menschen einander besser ansehen – der Blick nach draußen ist deprimierend:
Kaum ein Baum steht am Straßenrand, der zu besserer Luft und einem schöneren Anblick verhelfen könnte. Die Bürgersteige sind im Verhältnis zur Straßenbreite außergewöhnlich schmal, und die Autos rasen mit durchschnittlich 62 Stundenkilometern vorbei. An der Skalitzer Straße zu wohnen ist eine Strafe, von Lebensqualität kann nicht die Rede sein.
Zu diesem vernichtenden Urteil kommen die Autoren der Studie zur stadtverträglichen Belastbarkeit der Berliner Innenstadt durch den Kfz-Verkehr. Rund zwei Jahre untersuchten die Experten der Forschungsgruppe Stadt und Verkehr (FGS) sowie der Gesellschaft für Informatik, Verkehrs- und Umweltplanung (IVU) 542 Straßenabschnitte im Berliner Hauptverkehrsnetz. Und seit einem Jahr schlummert in den Schubladen der Hassemer-Verwaltung das Ergebnis: Drei Straßenabschnitte müssen unverzüglich saniert werden, da sie in jedem der vier untersuchten Bereiche den festgelegten Alarmwert überschreiten:
Höchste Dringlichkeit ermittelten die Gutachter für die Joachimstaler Straße, die Dudenstraße und die Skalitzer Straße. In diesen Straßen seien weder das Grünvolumen und die Raumaufteilung vertretbar, noch halte sich der Lärm in erträglichen Grenzen. Die Luft sei hochgradig belastet, und von Sicherheit im Verkehr könne unter der Linie 1 nicht die Rede sein: 23 Verletzte gab es 1992.
Wer aber als Folge des Gutachtens den Autoverkehr gerne reduziert, Bürgersteige verbreitert und begrünt sowie den öffentlichen Personennahverkehr gestärkt sähe, dem fehlen offenbar die tieferen Einsichten des Senatorengespanns Hassemer/Haase: Denn diese wollen die Skalitzer Straße durch die Öffnung der Oberbaumbrücke für den Autoverkehr mit der Warschauer Straße im Friedrichshain verbinden, die ihrerseits eine der unfallträchtigsten Ostberlins ist. Mit diesem Plan werden vollständig die Ergebnisse der Stadtverträglichkeits-Studie mißachtet, die zur Zeit der Abstimmung längst vorlag: Denn die Warschauer Straße führt direkt zur Frankfurter Allee, die im Ostteil die höchsten Kosten durch Unfälle verursacht. Parallel zur Spree verläuft zudem die Stralauer Allee; die Straße, in der am schnellsten gefahren wird.
Mit der Oberbaumbrücke kann also in künftigen Unfallstatistiken fest gerechnet werden. Hassemer und Haase sitzen einander derweil im Senat gegenüber und schau'n daran vorbei... Christian Arns
In der nächsten Folge raten wir von der Straße Am Juliusturm ab.
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