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Verteilungskämpfe jenseits der Ökonomie: Sighard Neckels Analysen von Neid, Scham und Bluff  ■ Von Harry Nutt

Als Björn Engholm am 3. Mai den Rücktritt von seinen politischen Ämtern bekanntgab, befragten öffentlich-rechtliche Fernsehreporter wie üblich die Passantenschar zum Vorgang. Ein Gemüsehändler ist mir dabei besonders in Erinnerung geblieben. Eigenartig beschämt sortierte er beim Beantworten der Frage weiter die Waren an seinem Stand und sagte zögerlich beiläufig Sätze wie: „Die machen sowieso, was sie wollen. Ändern tut sich ja nichts.“ Er drückte ein Gefühl aus, das ihn zum tagespolitischen Ereignis in deutliche Distanz rückte. In dieser Szene wurde ein Machtverhältnis sichtbar.

Welche Rolle das Fühlen in unseren alltäglichen sozialen Kämpfen einnimmt, führt Sighard Neckels Aufsatzssammlung „Die Macht der Unterscheidung“ an Beispielen und in Begriffsrekonstruktionen vor. Seine „Beutezüge durch den modernen Alltag“, der Untertitel, sind Bausteine einer Theorie symbolischer Macht, die auch dort fündig wird, wo bislang salopp von postmodernen Lebenstilen gesprochen wurde.

Szenen wie die eingangs von mir erzählte, bilden das Material, an dem Neckel seine Untersuchungen überprüft. Im Zeichen einer auffälligen Individualisierung der Gesellschaft durchforstet der Autor das psychosoziale Feld, in dem sich soziale Ungleichheit ausdrücken kann. Scham, Unterlegenheit, Neid und Bluff sind in dieser Sicht die Einsätze im alltäglichen Gefühlsleben, mit denen soziale Abgrenzungskämpfe geführt werden. Unterlegenheit zum Beispiel entsteht erst aus negativer Selbsteinordnung, nicht schon aus unmittelbaren Zwangs- und Machtverhältnissen. Neckel zeichnet am Beispiel des Schamgefühls und der Unterlegenheit die historischen Wandlungsprozesse der Gefühlslagen nach. „Kluge Herrschaft weiß das Aufkommen dieser Gefühle zu verhindern. Indem sie die Herrschaftsdienste dadurch anerkennt, daß sie diesen eigene Verpflichtungen entsprechen läßt, erhalten auch minder Mächtige einen Status, der sie mit Selbstachtung versehen kann.“ Unterlegenheitsgefühle, die so im Sinne des gemeinschaftlichen Funktionierens eingedämmt werden können, werden in modernen Gesellschaften freigesetzt und aktualisiert. „Unterlegen zu sein bezieht sich dann nicht mehr auf einzelne instrumentelle Fähigkeiten oder schlicht nur auf die ,Stellung‘, die man innehat, sondern auf das, was man persönlich ist. Hierin liegt die Ursache dafür, daß es in der modernen Gesellschaft nun Identitätsnormen sind, bei deren Verfehlung man sich unter legen fühlt.“

In der sich fortschreitend individualisierenden Gesellschaft treten neue und subtilere Verkehrsformen symbolischer Macht auf als die zwischen Herrschern und Beherrschten; sie gehen in die alltäglichen Unterscheidungskämpfe ein. Die Auffächerung von vielfältigen Lebensstilen und postmodernen Seinsweisen bedeutet demnach keinesfalls ein Verschwinden von Konkurrenzkämpfen am prognostizierten Ende der Arbeitsgesellschaft, sondern vielmehr deren Einzug in die Arena der feinen Unterschiede. Beim Marathonlauf in den Metropolen etwa, den Neckel ebenso untersucht wie die städtebaulichen Projektionen der Berliner Politik, geht es letztlich um Selbstbehauptungskämpfe der einzelnen in einer Gesellschaft, die sich im Massenereignis ihrer selbst versichert. Der soziale Akteur entwickelt Techniken und Strategien, um der Angst vor der vielerorts drohenden Deklassierung zu entkommen. Während harte Klassengegensätze mehr und mehr verschwinden, wird Eigenverantwortlichkeit und Individualität zu einem vielgestaltig modellierbaren Zwang. In diesem Sinne kann Neckels Studie zu „Bluffen, Täuschen und Verstellen“ gelesen werden, in der gezeigt wird, wie solche trickreichen Spielzüge funktionieren und warum sie heute gesellschaftlich hoch im Kurs stehen. Der erfolgreiche Bluff kann sich seiner allgemeinen Anerkennung sicher sein.

Sighard Neckel rückt dem sozialen Design der Erlebnisgesellschaft mit psychologischer Aufmerksamkeit und soziologischer Beobachtungsgabe zu Leibe und malt so ein eindringliches Portrait deutscher Zustände. „Wo die neue staatliche Einheit vorher getrennte Gruppen von Menschen zu einer Nation verbindet, bietet die Her

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vorhebung der eigenen Differenz die Chance, im sozialen Austausch die eigene Macht zu erhöhen. Positionskämpfe pflegen immer dann an Schärfe zu gewinnen, wenn die Verteilung von Rängen neu ausgehandelt wird.“ Es geht also nicht nur um einen Verteilungskampf im ökonomischen Bereich, sondern auch um einen auf den Märkten des Bildungs- sowie des symbolischen Kapitals.

Neckel beherrscht die gefällige essayistisch-journalistische Schreibweise ebenso wie die wissenschaftliche Prägnanz. An der Soziologie Pierre Bourdieus geschult, arbeitet er an einer psychologisch-existentialistischen Theorie der Scham. Eine Bruchstelle des Bandes hat die deutsche Wiedervereinigung vorgegeben; die Einzelbeiträge sind zwischen 1987 und 1993 erschienen und beziehen sich also zum einen noch auf ein geteiltes, zum anderen aber explizit auf das neue Deutschland. Eine Feldstudie über das nördliche Berlin-Schöneberg der achtziger Jahre zwischen Häuserkampf und Yuppifizierung mutet mittlerweile reichlich antiquiert an, weil die beschriebenen sozialen Typen so kaum noch auffindbar sind. Zu den Glanzstücken des Buches gehören jedoch zwei Beiträge, die im Zusammenhang mit einer Feldstudie im neuen Deutschland, in Waldleben, einem Industrieort in Brandenburg entstanden sind. In Waldleben wurde bekanntlich der Angolaner Antonio Amadeu erschlagen. Der Beitrag bietet eine plastische Beschreibung der gegenwärtigen Nach-Wende-Situation in Ostdeutschland mit ihren Desillusionierungen, den Fluchten in eine behelfsmäßig rekonstruierte DDR-Identität und den alltäglichen Abgrenzungsgefechten. Neckel verliert sich nicht in sozialpädagogischen Erklärungsversuchen, sondern schaut hin: „Im Zentrum des ganzen Debakels steht die beschämende Schwäche, die die jungen Deutschen in den Jahrgängen ihrer Eltern erkennen. Wer sich die Roten gefallen ließ, wem heute jeder Westdeutsche den Schneid abkaufen kann, dem bleibt doch nichts übrig, als auf innere Werte zu setzen. Der Schwache, das spüren sie, braucht die Moral, weil allein sie ihn vor der Gewalt der Stärkeren schützt, dem der Schwache sonst nichts entgegenzusetzen hat. Das schwächt die Moral und macht die Schwachen verächtlich. Die Grenzen zwischen den Körpern, im Kontakt zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen normalerweise einigermaßen sicher, werden von den Jugendlichen ohne Scheu durchstoßen. Sie wissen, daß hier das Zentrum der Angst sitzt, genau das wollen sie treffen.“

In einer Zeit, da die Politik diffus und orientierungslos am Modell Aufbau Ost bastelt und davon spricht, die Mauern im Kopf zu überwinden, lenkt Sighard Neckel den Blick auf die neuen Grenzen zwischen den Menschen.

Sighard Neckel: „Die Macht der Unterscheidung. Beutezüge durch den modernen Alltag“. S. Fischer Verlag (Reihe ZeitSchriften) 1993, 212 Seiten, 14.80 DM.