Stillgelegter Aufbruch

Jannis Kounellis' „Linea notturna“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Wie Damoklesschwerter, Marke Ruhrgebiet, starren sie flächendeckend auf den Besucher herab: gut hundert Stahlstäbe, die an Schürhaken erinnern und deren Ende sich jeweils um einen Kohlebrocken windet. Was Jannis Kounellis da an der Decke der Kunsthalle Recklinghausen angebracht hat, erhellt (und verdunkelt) auf prekäre Weise das Schicksal einer gesamten Industrieregion: das Revier, das starke Stück Deutschland, hängt mit seinen traditionellen Wirtschaftszweigen bekanntlich arg in der Luft.

In einer weiteren Installation wurden ein paar ausgediente Nähmaschinen mit Jutesäcken abgedeckt. Sie stehen auf billigen Holztischen vor der großen Fensterpartie des Museums, deren Sichtblenden Kounellis eigens hat entfernen lassen. Der Blick schweift über ein paar Bäume zum nahen Bahnhof, über die Gleisanlagen und wieder zurück ans Ende der Tische, auf deren letztem eine Hundertschaft Schnapsgläser fein säuberlich aufgereiht wurde. An der Wand hängen ein paar alte, abgewetzte Mäntel auf Nut- und Federbrettern, gerahmt. Suff und Maloche, Melancholie und Sehnsucht – Memento mori für einen Standort?

Auch wenn man es nicht derart wörtlich nehmen muß – es liegt nahe, und die Bilder von ausgemusterten Techniken und stillgelegten Betrieben drängen sich geradezu auf. Es kann kein Zufall sein, wenn die Veranstalter ausgerechnet auf Jannis Kounellis verfallen sind, um die diesjährige Ausstellung im Rahmen der Ruhrfestspiele zu bestreiten. Darin liegt insofern ein Novum, als man bislang die Form der Gruppenausstellung bevorzugte, um sich eines bestimmten Themas anzunehmen.

Zwar gibt es das Thema auch jetzt – es lautet „Aufbrüche“ – 25 Jahre nach '68“. Daß man aber ausgerechnet in diesem Jahr auf den künstlerischen Querschnitt verzichtete und statt dessen den kollektiven Aufbruch einer ganzen Generation am Beispiel einer – zugegebenermaßen für die zeitgenössische Kunst recht wichtigen – Persönlichkeit vorführt, verwundert dann doch etwas.

Von Kounellis Arbeiten geht eine weihevolle Ruhe, fast möchte man sagen: eine Grabesstille aus, deren Atmosphäre nicht so recht passen will zur annoncierten Aufbruchstimmung der 68er. Es sei denn – und das scheint näherliegend – man wollte eher die Stillegung einer revolutionären Epoche deutlich machen – als sie nostalgisch im Museum wiederaufleben lassen.

Und immerhin ist Kounellis den kritischen Voraussetzungen der arte povera treu geblieben, die sich ja in jenen Jahren des Aufbruchs formierte und nach einer neuen, nach einer nichtelitären Sprache der Kunst suchte. Noch immer wirken seine Materialien roh, fast ärmlich, ihre lakonische Zusammenführung wurzelt in der Vorstellung von der Kunst als einer Art Elementarlehre. Historisches mit Gegenwärtigem zu einem visionären Komplex zu verschmelzen gehört zu den erklärten Absichten.

Doch gerade die raumgreifenden Installationen erweisen sich als weniger spannungsreich und energiegeladen als jene Arbeiten, in denen sich Kounellis auf die Tradition des Tafelbildes beruft. So behängt er eine ganze Wand mit einer Reihe von Stahlplatten unterschiedlicher Größe, in die er hochkant ein bis zwei schmale Öffnungen hineinschnitt. Einige von ihnen hat er vergittert, andere wieder völlig verschlossen. Hinter manchen nimmt man einen schwachen Lichtschein wahr. Der Gedanke an den Zellgang eines Gefängnisses drängt sich auf, aber auch Assoziationen an Ikonostasen stellen sich ein, jene Bildwände, hinter denen sich das Allerheiligste in orthodoxen Kirchen verbirgt. Viele seiner inszenierten Räume vermitteln eine solche Polarität zwischen dem Sakralen und dem Profanen, zwischen dem Präsenten und dem Verborgenen.

Daher greift Kounellis immer wieder frühere Themen auf, wiederholt oder wandelt ab, zitiert sich selbst und formuliert Altes neu. Seine Elemente bleiben begrenzt wie der Wortschatz einer untergegangenen Sprache. Und man könnte hinzufügen: einer sozialen Sprache der Kunst. Sie macht sein Werk auf eigentümliche Weise lesbar und unleserlich zugleich. Als läge ihm eine Grammatik zugrunde, deren Operationen und Regeln es aber nur scheinbar erlauben, die Elemente zu einfachen, klaren Aussagen zu kombinieren. Offenbar wird das im Mittelgeschoß: was aus der Distanz noch wie alttestamentarische Gesetzestafeln aussieht, erweist sich bei näherem Hintreten als Serie von Stahlplatten, auf die mit dünnem Draht kleine Kohlestücke montiert wurden. In regelmäßigen Abständen und mit Lücken und Leerstellen durchsetzt, ähneln sie tatsächlich einem Text.

Die Spannung zwischen virtueller Lesbarkeit und prinzipieller Unlesbarkeit, zwischen kollektiver Metaphorik und individueller Metaphysik konzentriert sich, wie könnte es anders sein, im Material. Genau in dieser Einstellung Kounellis' zu seinem Material, seinen Elementen und seiner Inszenierung schlägt sich eine paradoxe Haltung nieder, eine Art von negativer Dialektik, deren Aussage sich weder allein der Ästhetik noch irgendeiner Sphäre des Politischen oder Historischen zuordnen läßt. Hier läge eine Spur, die zurückführt zur (verlorenen?) Generation der 68er und ihrem stillgelegten Aufbruch. Indem nämlich die Werke auf ihrem allgemeinen Anspruch und ihrer sozialen Bedeutung beharren. Und doch behalten sie ihr individuelles Geheimnis für sich.

Jannis Kounellis: „Linea notturna“. Kunsthalle Recklinghausen. Bis zum 11. Juli. Di.–Fr. 10–18, Sa. u. So. 11–17 Uhr. Ein schöner Katalog (leinengebunden!) bietet zugleich den retrospektiven Überblick zurück von 1993 bis 1967 und kostet an der Kasse lächerliche 35 DM.