Mathematik und Mandala

■ Chaos-Fieber: Zur Vortragsreihe der Angestelltenkammer über fraktale Strukturen, kurz: Chaos

Mit einer vierteiligen Vortragsreihe hat es das Kulturreferat der Angestelltenkammer unternommen, „Modelle von Natur und Gesellschaft“ aus der Chaosforschung an ein breiteres Publikum zu bringen. Über 6OO TeilnehmerInnen ließen sich mit den Erklärungsmustern konfrontieren, die von der Wissenschaft für Systeme und Prozesse der Selbstorganisation angeboten werden. „Dabei mußten wir bei einigen Vorträgen noch 5O Leute und mehr nach Hause schicken“zeigt sich Dr.Peter Beier als Initiator der Veranstaltungsserie beeindruckt und kündigt bereits eine Fortsetzung für den Herbst des Jahres an.

Den Auftakt machte mit Prof. Dr. Heinz-Otto Pleitgen vom Institut für Dynamische Systeme an der Uni Bremen einer der international gerühmten Chaos- Gurus: Die fraktalgeometrischen Bäumchen des Mathematikers sind bei den New Age-Travellers der USA längst zu modernen Mandalas geworden.Pleitgen will die Chaostheorie nicht mit den großen neuzeitigen Entwürfen etwa der Quanten-oder Relativitätstheorie auf eine Stufe stellen. Das eigentliche Phänomen sieht er in der radikalen Abkehr von überkommenen naturwissenschaftlichen Weltbildern, die sich im Interesse an Chaos ausdrückt. Entsprechend dieser ganzheitlichen Wende sucht er denn auch für seine Überlegungen übergreifenden Widerhall ebenso in Musik und Kunst wie in der Medizin.

Ausdrücklich nur als Modelle verstanden wissen will der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Klaus G. Troitzsch von der Uni Koblenz-Landau seine chaostheoretischen Ableitungen für die Prozesse sozialer Interaktion: Analog zum vielstrapazierten Wirbelsturm aus dem Flügelschlag eines Schmetterlings zeichnet er Modelle vom Zusammenbruch komplexer Verkehrssysteme, wie sie etwa bei der Staubildung anzutreffen sind. Am Prozess der Meinungsbildung in der Interaktion von Wissenschaft, Medien und Publikum weist Troitzsch beispielhaft für die Frage der Kernenergie nach, daß Prognosen über solche Entwicklungen quantitativ kaum möglich sind: Die zusammenwirkenden Faktoren sind dafür viel zu wenig bestimmbar.

Über Chaos und Stabilität des Sonnensystems referierte Prof. Dr. Peter H. Richter vom Bremer Institut für Theoretische Physik: Erst mit den Möglichkeiten der Computertechnik sei die ungeahnte Regelhaftigkeit dessen zu vermitteln, was vorher als unstruktiertes, nicht vorhersagbares Verhalten erschien: Mit dem Rechner findet sich das altvertraute Ordnungsprinzip des Goldenen Schnitts allüberall.

Der Moralphilosoph Prof. Dr. Rainer Hegselmann (Uni Bremen) schließlich forderte zum Nachdenken über Wirkungsweisen solidarischer Netzwerke auf und behandelte dabei die Frage „Wie entsteht Konsens“ am Beispiel der aktuellen Konsensverdichtung „Doppelte Staatsbürgerschaft“.

Bewußt wurde in dieser Reihe die Orientierung auf ein breites Publikum gewagt: So war unter den BesucherInnen allenfalls ein Viertel aus dem universitären Bereich. Dr. Beier dazu: „Die Beschäftigung mit Positionen und Ergebnissen der Chaosforschung zeigt die Erwartung, aus dem alltäglichen Chaos mit Hilfe der Wissenschaft über eine neue Kernschmelze zur Idee zu kommen. Komplexität an sich wird als banal zurückgewiesen, es gibt den Wunsch nach Deutungsprogrammen, nach der Ideologie jenseits der Ideologien.“

Nicht zu überhören war in den anschließenden Gesprächen bei vielen TeilnehmerInnen das Unbehagen darüber, daß die Wissenschaftler sich durchweg diesem Verlangen nach Sinnstiftung auf der Basis von Chaos entziehen, gar Antworten und Rezepte schlichtweg verweigern. Daß Chaos (im Sprachgebrauch französischer Wissenschaftler übrigens „catastrophe“) dennoch Sehnsüchte von Esoterikern, Naturwissenschaftlern und „Systemgeschädigten“ beflügelt, ist dabei vielleicht die interessanteste Anfrage an den Zeitgeist. U.Reineking-Drügemöller