Dem verblutenden Kind Schokolade geben

■ Grüne Diskussion um Bosnien: Kein Religions- kein Bürgerkrieg / Militär gegen serbischen Faschismus/ Humanitäre Hilfe am Ende

„Die humanitäre Hilfe für Zentralbosnien ist am Ende. Jetzt weiterzumachen, das ist wie damals, als noch Päckchen ins Warschauer Getto geschickt wurden, als das schon lange nicht mehr existierte.“ Überall wo die Grüne Bürgerschaftsabgeordnete Marieluise Beck von ihrer Reise durch das zentralbosnische Kriegsgebiet berichtet, ist das Entsetzen unter den ZuhörerInnen groß. Und die Diskussion bewegt sich in Richtung einer militärischen Intervention. Am Montag abend hatten die Grünen in die Villa Ichon eingeladen: „Bosnien ruft um Hilfe“.

Smail Balic ist Religionswissenschaftler, ein distinguierter älterer Herr. Mühselig die Fassung bewahrend beschwor er am Montag die gut 80 BremerInnen, dem Sterben nicht mehr länger tatenlos zuzusehen. Es ginge nicht allein um das Schicksal der Bosnier. „Die essentielle Menschlichkeit wird zerstört. Niemand kann sagen, er hätte nichts gewußt. Die Schlachtbank bekommen wir jeden Abend live im Fernsehen vorgeführt.“ Zuvor hatte er in einem Parforceritt durch die Geschichte der bosnischen Moslems versucht, dem Krieg auf dem Balkan die religiöse Legitimation zu entziehen. Der Krieg, so Balic, werde von der serbischen Seite nur zum Religionskrieg stilisiert: Die Moslems seien eigentlich Serben, die ihre Religion verraten hätte. Genau diese Stilisierung trage dazu bei, daß Europa zusehe: „Es gibt eine Allergie gegen den Islam.“ Dabei stünden gerade die bosnischen Moslems in einer höchst liberalen Tradition.

Dunja Melcic, Redakteurin der Kommune, spitzte ihren Beitrag auf die „teuflische Logik der ethnischen Perspektive“ zu: Den Krieg als einen Krieg der Ethnien darzustellen, „das kommt direkt aus Belgrad.“ „Und vom grünen Landesvorstand“, rief ein Zuhörer. Dunja Melcic: „Die Republiken sind als Staaten, nicht als ethnische Einheiten anerkannt.“ Auch wenn die bosnischen Moslems am meisten unter der Aggression zu leiden hätten, der von der UNO anerkannte Staat Bosnien-Herzegowina sei kein Staat der Moslems allein. Mit seinem Untergang gehe ein multiethnischer Staat unter. „Das ist kein Bürgerkrieg. Serbien hat diesen Konflikt ethnisiert und der Westen hat diese Rhetorik übernommen.“ Serbien habe damit „auf der ganzen Linie gesiegt“. Und es sei nicht zu erwarten, daß damit auch der Krieg zuende wäre, auch wenn Europa sich mit Reservaten für die Moslems abgefunden hat: „Die werden weitermachen. Was fehlt in Europa, das ist der politische Wille.“

„Es gibt einen neuen Faschismus in Europa“, warf Marieluise Beck in den Raum. Und was noch vor kurzer Zeit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hätte, das blieb unwidersprochen. Es gebe das erklärte Ziel, Großserbien zu schaffen, und zwar mit allen Mitteln. „Schon jetzt finden im Kosovo Zwangssterilisationen statt.“ Diesem Faschismus sei eben nicht mit humanitären Hilfsaktionen, Verhandlungen oder gar mit „unsereren pazifistischen Losungen von 1983“ beizukommen. „Das ist“, sagt Smail Balic, „wie wenn eine Mutter ihrem verblutenden Kind Schokolade gibt.“

Faschismus, das war ein Stichwort, auf das sich viele Beiträge bezogen. „Wir müssen unsere Begriffe klären“, sagte Birgit Geissler. „Das ist kein 'Bürgerkrieg' und wenn es in Serbien Faschismus gibt, dann müssen wir das auch 'Faschismus' nennen.“ Nur einer redete gegen den Einsatz von Militär. Gerrit Guit sagte, er sei beispielsweise dagegen, wenn die Moslems Gegenoffensiven starten würden: „Das gibt bloß noch mehr Opfer.“

Wie es weitergehen sollte, das war die große Frage. Einerseits waren fast alle für eine Intervention, aber gleichzeitig machte sich tiefe Resignation breit, daß mittlerweile alles schon zu spät sei und es zudem auf internationaler Ebene keine Macht gebe, die sich für eine Intervention einsetze. Dann aber, darauf drängten auch alle Bosnier, die zu der Veranstaltung gekommen waren, dann aber sollte wenigstens das Embargo für die Bosnier aufgehoben werden. „Wir wollen uns wenigstens selbst verteidigen“, rief einer. Vorerst soll noch einmal der politische Druck erhöht werden. Ein neu gebildetes Bosnienkomitee will nun Unterschriften unter einen Antrag sammeln, mit dem eine Gruppe Bundestagsabgeordneter eine Debatte erzwingen will. Damit sollen auch die Bremer Abgeordneten konfrontiert werden. Jochen Grabler