Hundert Komma X

■ RadiopiratInnen aller Länder vereinigten sich in Dresden

Dresden (taz) – Da freute sich die Schild-Zeitung der Bunten Republik Neustadt: „Dramatisch! Auch in diesem Jahr wird es ein spannendes Rennen geben zwischen dem Team der Telekom und der kriminellen Vereinigung BRN 4.“ Das Stadtteilfest im Dresdner Norden hat seine eigene öffentlich-rechtlose Rundfunkanstalt. Zum zweiten Mal bereits sendeten am vergangenen Wochenende die Piratenfunker des „Radios der Bunten Republik Neustadt“ auf UKW-Frequenz „100,X“. Wieder war der Sender an einem exquisiten Ort versteckt und der Empfang beinahe vorzüglich. Bis über die Stadtgrenzen hinaus war „BRN 4“ zu hören.

Am Mikrofon saßen Leute, die in der Neustadt leben und den Alltag in diesem Stadtteil kritisch betrachten: Die Edelsanierung von billigem Wohnraum und die Vertreibung der Mieterinnen, der rasante Vormarsch von Büros und die Vertreibung der kleinen Läden, Erfahrungen in besetzten Häusern, Schule und Gewalt wurden von denen diskutiert, die davon betroffen sind.

Journalistische Schulbuchweisheiten galten sowenig wie die Suche nach „Ausgewogenheit“. O-Ton war alles. Witz sowieso, aber auch Sarkasmus blühte reichlich, wie bei der Originaleinblendung vom „Vereinigungsparteitag von CDU und SPD“. Knapp dreißig Stunden war Zeit für eine Utopie. Stark beunruhigt von soviel Frechheit zeigte sich die Frequenzmonopolistin Telekom. Sie recherchierte eifrig, doch erfolglos. Ob die Telekom letztlich ein Einsehen hatte oder tatsächlich an ihre technischen Grenzen gestoßen war, das bleibt vorerst offen.

„BRN 4“ betrieb aber nicht nur die Selbstbespiegelung eines Stadtteils. Im Äther wurde auch das Bundestreffen der „Freien Radios“ abgehalten, und die PiratInnen aller Länder bekamen ihre Fenster im Programm. Die Freiburger stellten sich vor und die Ilmenauer, die Erfurter berichteten von der kürzlichen Polizeiaktion gegen ihren Sender, als sechs PiratInnen in Handschellen abgeführt wurden, Nürnberger und Prenzelberger waren auf Sendung, und auch die Donau-Piraten aus Wien mit „Radio Filzlaus“ waren dabei.

Nachdem es Mitte der achtziger Jahre etwas still um die Freien Radioinitiativen geworden war, wollen sie nun wieder deutlicher auf ihre Forderung nach einem „Äther für alle“ aufmerksam machen. Immernoch ist Radio Dreyeckland in Freiburg eine bundesdeutsche Ausnahme. Jahrelanger Kampf als Piratensender war dessen Zulassung vorausgegangen. Vor diesem Hintergrund soll im November der „Bundesverband der Freien Radios“ gegründet werden. So war das BRN 4-Projekt auch als Vorbereitungstreffen zu verstehen.

Ein kleines Fensterchen will nun auch Sachsen öffnen. Am 8.Juli soll „coloRadio“ auf Sendung gehen. Innerhalb der neuen kommerziellen „Elbwelle“ hat es einen Programmplatz zugesagt bekommen: Jeden Donnerstag von 20 Uhr bis 24 Uhr auf 100,2 Mhz. Vom Sendestart ist seit Ostern schon die Rede. Zwar durften sich seitdem mehrere austauschbare Dudelsender den HörerInnen vorstellen, doch die Nichtkommerziellen wurden immer wieder vertröstet. „Wir können endlich zeigen, was Freies Radio leistet“, erklärt „coloRadio“-Vereinsmitglied Martin Duhnke. „Aber wir sind vom guten Willen der ,Elbwellen‘- Gesellschaft abhängig.“ Die Forderung nach einem demokratischen Zugang zu den Frequenzen stehe unverändert auch in Sachsen. Detlef Krell