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Metaphysischer Krimi

Ein neuer Roman von Horst Stern, dem Pionier des ökologischen Journalismus  ■ Von Sabine Paul

Für Kassandra dürfte ihr gewaltsamer Tod eine Erlösung gewesen sein – die einzige Möglichkeit, von ihrem Fluch befreit zu werden, als Seherin immer die Wahrheit prophezeien zu müssen, ohne jemals Gehör zu finden. An ihr Schicksal fühlt man sich bei Klint erinnert, einem deutschen, in Italien lebenden Journalisten, der sein ganzes Berufsleben lang gegen die Zerstörung von Natur und Umwelt anschreibt und an seinen vergeblichen Appellen, die Menschheit zur Vernunft zu bringen, schließlich zerbricht.

„Klint“ ist das dänische Wort für „Abbruch“, „abruptes Ende“. Und das genau ist es, was der Romanfigur Klint widerfährt: In einer abgelegenen Karsthöhle nördlich von Triest kommt Klint auf merkwürdige Weise ums Leben, ob durch Selbstmord oder Unfall bleibt ungeklärt – sein Leben bricht einfach ab.

Horst Stern erzählt das Klintsche Scheitern als einen Weg in den Wahn, in die Schizophrenie. Mit seinen ersten ökologischen (Fernseh-)Grundkursen hatte Stern in den siebziger Jahren zunächst ermutigende Erfolge – wenn man hohe Einschaltquoten so interpretieren will. Aber nach über 30 Jahren des Engagements für einen vernünftigen Umgang mit der Natur ist sein Resümee nüchtern: Er habe nichts erreicht. Der Wald sterbe weiter vor sich hin; die von Jahr zu Jahr stärker manipulierten Waldschadensberichte erschienen gerade noch als Zwölf-Zeilen-Meldung in „Vermischtes“, und niemand unternehme ernsthaft etwas gegen den ausgemachten Schwachsinn der Landwirtschaftspolitik in Europa. Statt dessen seien wir mächtig stolz darauf, daß wir den Müll ein bißchen sortieren.

Man mag versucht sein, in Klint ein Alter ego Horst Sterns zu sehen, eine kaum verschlüsselte Bilanz seines Denkens, seiner Niederlagen, seiner Ohnmacht vor der allgemeinen Ignoranz, speziell vor der von Politik und Technokratie. Aber das Forschen nach Übereinstimmungen zwischen Klint und Stern ist müßig und für das Verständnis des Buches überflüssig.

Stern bedient sich einer schon in der Romantik beliebten Technik und gibt sich als Herausgeber der Aufzeichnungen eines Fremden aus. In einer Karsthöhle will er die Manuskripte des toten Klint gefunden haben, die ihn anregen, sich auf die Spuren dieses Mannes zu begeben. Die Beschäftigung mit Klint wird ungeahnt intensiv: „Ich brauchte ein ganzes Jahr. Danach kannte ich diesen Klint wie einen Bruder.“ In den Sog seines ausgedachten Helden geraten, reicht ihm die Rolle des nüchternen Herausgebers aber nicht mehr – als Ich-Erzähler führt Stern nun durch die Klintschen „Stationen einer Verwirrung“, wie das Buch im Untertitel heißt. Ähnlich den Charakteren von Italo Svevo, den Stern als literarisches Vorbild angibt, ist Klint eine kompliziert gebaute Persönlichkeit, die vor allem in ihren inneren Monologen ständig die Angst reflektiert, den Rückhalt in einer geordneten und gesunden Welt zu verlieren.

Der Journalist Stern, interessiert an der italienischen Psychiatrie-Reform, ist mehrmals nach Triest gereist, um sich in San Giovanni umzusehen, der Anstalt, die 1973 ihre Tore denjenigen Patienten öffnete, die nicht unwiederbringlich jenseits von sich selber waren. Hier wird Stern zu seiner Figur Klint inspiriert, zu der Beschreibung dessen, was der Zustand dieser Welt in einer empfindsamen Seele anrichten kann.

Ein ehrgeiziges Projekt, zumal Stern sich zum Ziel gesetzt hat, die Verfallserscheinungen in Bilder umzusetzen. Er verengt seinen Stoff nicht auf eine psychiatrische Fallstudie, sondern konstruiert eine Geschichte, die auf drei verschiedenen Ebenen die jeweiligen Geisteszustände Klints spiegelt.

Ein Mord an einer jungen Frau im Rom der Gegenwart findet seine Auflösung in der griechischen Mythologie. In Arkadien, dem Land der Glückseligkeit und Unschuld, das schon im Altertum als Schauplatz des idyllischen Lebens verklärt wurde, sucht Klint bei den Göttern nach der Klarheit, die er bei den Menschen nicht finden kann. Als Mitglied in einem Journalisten-Troß reist Klint erneut auf die Peloponnes. Dort wird er Zeuge, wie das arkadische Tal auf gespenstische Weise für die Bedürfnisse des modernen Massentourismus gestylt wird: Auf Tafeln mit Versen von Vergil werden architektonische und landschaftliche Bausünden als Errungenschaft des Zeitgeistes gepriesen.

Stern treibt ein Verwirrspiel mit dem Leser; es wird immer schwieriger, Fiktion und Wahn des Helden auseinanderzuhalten. Diese Mehrdeutigkeit ist freilich das Kalkül des Autors. Aus der „einfach“- prägnanten Sprache des Journalisten ist ein elitärer Edel-Stil geworden, den der Erzähler allerdings seinem Helden unterschiebt.

Ob dieses Werk Sterns – die Gattungsbezeichnung „Roman“ fehlt – ein ebensolcher Erfolg wie sein „Mann aus Apulien“ wird, ist fraglich. Zwar werden seine Anhänger nicht enttäuscht sein, weil er seiner Linie treu geblieben ist: typisch dafür, wie er etwa den „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch als Darstellung des Weges der Menschheit in die ökologische Katastrophe interpretiert; aber die Drastik der apokalyptischen Visionen dieses metaphysischen Krimis dürfte vielfach für Irritationen sorgen.

Der Kindler-Verlag, der dieses Buch ursprünglich als Schwerpunkt seines Programms zur letzten Buchmesse herausbringen wollte, machte nach Vorlage des Manuskripts einen Rückzieher. Das wüste Werk schien ihm nicht geheuer gewesen zu sein. Es sind aber nicht alle Verlage solche Bedenkenträger.

Horst Stern: „Klint: Stationen einer Verwirrung“. Albrecht Knaus, München 1993. 319 Seiten, 39,80 DM

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