Das Kat hat die Kanone ersetzt

Im Süden Somalias, weit vom turbulenten Mogadischu, ist die Welt für die UNO noch in Ordnung. Doch das Mißtrauen überwiegt die Hoffnung  ■ Aus Kismaju François Misser

Kismaju ist ein Ort mit zwei Gesichtern. Tagsüber bietet die kleine Hafenstadt im Süden Somalias ein Bild entspannter Normalität. Die Märkte quellen über vor Gütern – Zigaretten, Tee und Zucker aus Kenia, importierte Spaghetti, Obst und Gemüse aus dem nahen Juba-Flußtal, wo die Bauern wieder ihre Felder bestellen. Belgische UNO-Soldaten betätigen sich als Dachdecker bei der Instandsetzung von Schulen, in denen es sogar wieder Lehrer und Schüler gibt.

Beim Anbruch der Dunkelheit scheint es jedoch, als sei der Bürgerkrieg wiedergekehrt. Jede Nacht sind Schießereien zu hören. Im Mai mußten die belgischen Soldaten des öfteren im Morgengrauen ausschwärmen und Leichen einsammeln. In den letzten Wochen passierte das nicht mehr so oft – aber nun haben die Belgier wieder den Befehl erhalten, ihre Mützen gegen Helme auszuwechseln. Denn es ist nicht auszuschließen, daß die blutigen Kämpfe zwischen UNO-Truppen und den Anhängern von General Farah Aidid in der fernen Hauptstadt Mogadischu sich eines Tages auch hier bemerkbar machen.

Noch ist alles ruhig in Kismaju. Aber die Ruhe verdeckt, daß dies der erste Ort Somalias war, in dem UNO-Truppen zu einer Veränderung der innersomalischen Kräfteverhältnisse beitrugen. Am 22. Februar wurde die Stadt unter den Augen der belgischen Soldaten von Anhängern des Generals Morgan eingenommen, Schwager des gestürzten Diktators Siad Barre und Todfeind des in Mogadischu herrschenden Generals Aidid. Frauen und Kinder des Marehan- Clans, aus dem Morgan seine Anhänger rekrutiert, hatten sich mit Waffen unter der Kleidung in die Stadt eingeschlichen, nachdem die Belgier zuvor die Kämpfer des bisherigen „starken Mannes“ von Kismaju, des Aidid-Verbündeten Omar Jess vom Clan der Ogadenis, entwaffnet hatten. Es war ein leichtes für die Marehan, die Ogadenis zu besiegen und aus der Stadt zu vertreiben. Dieser Sieg der Barre-Anhänger ist seitdem einer der Hauptkritikpunkte Aidids gegen die UNO. Im Mai versuchte Jess, Kismaju zurückzuerobern. Doch die Belgier und Morgans Marehan-Kämpfer warfen ihn zurück.

Ist es da eine Überraschung, daß Kismaju jetzt über die Niederlagen Aidids in Mogadischu jubelt? Am vergangenen Donnerstag, während US-Kampfhubschrauber über Aidids Hauptquartier in Mogadischu donnerten, demonstrierten 500 Morgan-Anhänger in Kismaju. Sie skandierten: „Nieder mit Aidid! Jess raus!“

„Die UNO toleriert den Drogenhandel“

„Wir möchten einen Konsens erreichen, der die Kriegsherren Morgan, Aidid und Jess marginalisiert“, sagt der örtliche UNOSOM- Vertreter Walsh. Die Vereinten Nationen, sagt er, gingen strikt neutral vor. Allerdings hat diese Neutralität ihre Nuancen. Gegen den untergetauchten Jess liegt ein UNO-Haftbefehl vor. General Morgan lebt unbehelligt in seinem Hauptquartier in Doogle, 200 Kilometer nördlich von Kismaju nahe der Grenze zu Kenia.

Wenn Morgan sich allerdings Kismaju nähern sollte, so die UNO, wird auch er verhaftet. Einer seiner Leutnants, Said Hussein, wurde bereits festgenommen und als UNO-Gefangener nach Mogadischu geschickt: Er hatte Lebensmitteltransporte des Roten Kreuzes beiseite geschafft.

Die Inkohärenz der UNO in Somalia insgesamt trägt zur Verwirrung bei. Im April hatten die Belgier in Kismaju Osman Ato verhaftet, einen wichtigen Finanzier und Berater Aidids. Er hatte mehrmals die Stadt mit eigenen Truppen angegriffen und wird der Zusammenarbeit mit der italienischen Mafia verdächtigt. Wenige Tage später ließ ihn der damalige US-Kommandeur der internationalen Truppen, General Johnston, ohne Erklärung wieder frei. Jetzt aber sind Atos Lagerhallen in Mogadischu eines der Hauptziele US- amerikanischer Luftangriffe gewesen. Und im Mai, als Omar Jess sich zur Rückeroberung Kismajus rüstete, rückten für einige Tage 1.000 US-Marinesoldaten ein und erklärten, sie würden die Stadt nach Waffen durchsuchen. Das Ergebnis: Das in der Stadt vorhandene Kriegsgerät wurde versteckt, die Amerikaner fanden lediglich drei Gewehre, von denen eines nicht einmal funkionierte.

Nun haben die Belgier das Waffentragen in der Stadt verboten. Mit Metalldetektoren werden selbst die Frauen kontrolliert. Aber der Frieden hat seinen Preis: Belgische UNO-Offiziere kritisieren, daß die UNO zur Wahrung der Stabilität den Handel mit der in Somalia und Jemen traditionell weit verbreiteten Droge Kat toleriert, wenn nicht gar fördert.

Vor dem Einmarsch internationaler Truppen in Somalia lebten die warlords von der Plünderung und Abzweigung internationaler Hilfsgüter. Nun finanzieren sich Morgan und Jess vom Kat-Handel: Sie kontrollieren und schützen die Drogentransporte aus Äthiopien und Kenia nach Somalia. Das UNO-Mandat erlaubt den UNO- Soldaten nicht, die Droge zu beschlagnahmen und damit die wirtschaftliche Macht der Krieger zu brechen.

So begnügen sich die belgischen Soldaten damit, jede neue Ladung genau zu untersuchen und sich zu vergewissern, daß die Säcke voller Kat auch ja keine versteckten Waffen enthalten. Nach der Überprüfung darf die Droge passieren, wobei die Belgier wissen, daß die Verkaufserlöse direkt in die Taschen von Jess und Morgan fließen. Diese können sich von dem Geld seelenruhig neue Waffen kaufen, welche die Belgier dann später suchen gehen können.

Die Clans wollen von der UNO-Präsenz profitieren

Ist das der von der UNO gesuchte „Konsens“? Der Hunger ist aus Kismaju so weit verschwunden, daß das Internationale Rote Kreuz jetzt mangels Beschäftigung aus der Stadt abziehen will. 10.000 bis 15.000 Bauern aus dem Umland, die im Zuge des Bürgerkrieges aus ihren Dörfern vertrieben worden waren und Zuflucht in Kismaju gefunden hatten, leben noch in der Stadt. Auch sie werden gut versorgt.

Nun will die UNO sie dazu bewegen zurückzugehen. Die Wiederansiedlung geflüchteter Bauern, erklären UNO-Mitarbeiter, sei die nächste Etappe des Wiederaufbaus. Im Juli soll ein Truppenkontingent aus Malaysia Kismaju übernehmen; die Belgier werden dann weiter in das von Ogadenis besiedelte Juba-Flußtal vorrücken. Dort verteilt bereits die US-amerikanische Hilfsorganisation „World Concern“ Saatgut und landwirtschaftliches Gerät an die Bauern; die belgische Armee verteilt Angelruten und Netze, damit die vor dem Krieg verbreitete Fischerei wiederaufgenommen werden kann. Das Tal ist jedoch noch längst nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, da schwere Regenfälle zu Überschwemmungen der fruchtbarsten Böden geführt haben.

Um über den wirtschaftlichen Aufschwung auch zur politischen Versöhnung zu finden, sind noch viele Hürden zu überwinden. Vor dem Stadtrand Kismajus leben die von den Morgan-Kämpfern vertriebenen Ogadenis der Stadt in einem Lager mit ihrem „Sultan“ Abdi Ali Ahmed Sokor und warten darauf, zurückkehren zu können. Kämpfen wollen sie nach eigenem Bekunden nicht mehr. Es sei sinnvoller, sagen sie, auf Verhandlungen zu setzen.

Die verbesserte Wirtschaftslage; die Überlegung, daß die UNO nicht auf ewig dableiben wird und daß man von ihrer Präsenz profitieren sollte; die Einsicht, daß eine Rückeroberung Kismajus nicht möglich ist, solange die 850 belgischen UNO-Soldaten dort stationiert sind – all diese Faktoren haben die Ogadeni-Führer dazu bewogen, sich dem Dialogprozeß zu beugen, den der lokale Vertreter der UNO-Mission (UNOSOM), Marc Walsh, vorantreibt. Als Aidid Anfang Juni einen Gesandten aus Mogadischu schickte, um die Ogadenis um Unterstützung bei der bevorstehenden Konfrontation mit der UNO zu bitten, zeigten sie ihm die kalte Schulter. Auch die Marehan sind am Dialog interessiert – wenn auch aus ganz anderen Gründen: Sie wollen Zeit gewinnen und ihre Herrschaft über Kismaju festigen.

In diesem Kontext und unter Vermittlung prominenter Anführer beider Seiten sind seit Anfang Juni etwa 120 Clanälteste aus der gesamten Region wiederholt zusammengetroffen. Bei langen Palavern à la somalienne im Schatten der Akazienbäume werden kontroverse Themen angesprochen: Die „Wiedervereinigung“ der Ogadenis und Marehan von Kismaju; die Rückkehr des Ogadeni- Sultans in die Stadt; die Öffnung des von Ogadenis bewohnten Juba-Tals für Marehan-Siedler; die Bildung gemeinsamer Friedenskomitees.

Die Hoffnung von UNOSOM- Vertreter Walsh: Sollte dieses Modell in einer Region Erfolg zeitigen, die nach wie vor das wirtschaftliche Herz Somalias ist, könnten auch die Bewohner anderer Regionen daran Gefallen finden und es nachahmen wollen.

Verstimmungen innerhalb der UNOSOM-Leitung

Es sind winzige Hoffnungsschimmer. Das Vertrauen zwischen den Clans reicht nicht weit. „Die Marehan zögern alles hinaus“, beschweren sich die Ogadenis. „Die Ogadenis wollen ja doch nur Kismaju wiederhaben“, erwidern die Marehan. Nicht auszuschließen ist, daß die Ogadenis die Geduld verlieren und von Omar Jess in ein neues militärisches Abenteuer hineingezogen werden. Und auch die Regelung einfachster Händel gestaltet sich schwierig: Auf jedes Haus in Kismaju, sagen die Belgier, kommen mindestens drei Besitzer.

Die Zuspitzung des Konflikts zwischen Aidid und UNO in Mogadischu ist für den Versöhnungsprozeß eine zusätzliche Gefahr. Walsh beklagt sich, daß die UNO- Verantwortlichen in Mogadischu so sehr auf Aidid fixiert seien, daß sie die hoffnungsvollen Fortschritte im Süden gar nicht wahrnähmen. Dadurch brächten sie das Erreichte in Gefahr: So mußte eine für den 14. Juni angesetzte neue Verhandlungsrunde in Kismaju ausfallen, da die in Mogadischu zum Transport einiger Ältester aus entlegenen Dörfern in die Stadt angeforderten UNO-Hubschrauber für die Militäraktionen in der Hauptstadt gebraucht wurden. Und zu keinem Zeitpunkt habe das UNO-Hauptquartier in Mogadischu die UNO-Mission in Kismaju darüber konsultiert, welche Auswirkungen der Militärschlag gegen Aidid denn dort haben könnte.

Zwar sind sich die Belgier in Kismaju sicher, daß sie keine direkte militärische Herausforderung zu befürchten haben. Aber die Ansicht ist unter den UNO- Truppen verbreitet, daß die in Mogadischu beklagten „Provokationen“ und „terroristischen Angriffe“ auch in Kismaju möglich sind. Als Erklärung dient der Hinweis auf eine mögliche Allianz zwischen Aidid und somalischen Islamisten: Beim Flecken Kolbio an der Grenze zu Kenia stünde eine bewaffnete islamistische Miliz von über 100 Kämpfern, und eine ähnliche Truppe soll sich nahe der von Botswanern besetzten Stadt Bardera befinden.

Einzelne Zwischenfälle nähren diese Sorgen. Am 3. Juni wurde ein belgischer Offizier in Kismaju gezielt vom Dach eines Markthauses angeschossen. Er verlor einen Finger. Zwei Tage später entkam ein belgischer Kommandant nur knapp einem Hinterhalt mitten in der Stadt Gelib. Kann der prekäre Frieden in Süd-Somalia halten?