„Eine Kriegserklärung“

■ Estlands Russen wollen gegen neues Ausländergesetz kämpfen

Tallinn (taz) – Das estnische Parlament hat am Montag ein Ausländergesetz verabschiedet, das von Moskau als Verstoß gegen die Menschenrechte und von großen Teilen der russischen Minderheit im Lande als „offene Kriegserklärung“ bewertet wird. Das mit 59 Ja- gegen nur drei Neinstimmen verabschiedete Gesetz stuft alle EinwohnerInnen als AusländerInnen ein, wenn sie oder ihre Vorfahren nach der sowjetischen Besetzung 1940 ins Land gekommen sind. Damit verliert fast ein Drittel der Bevölkerung von einem Tag auf den anderen seine staatsbürgerlichen Rechte. Sie müssen jetzt, um einer Ausweisung wegen illegalen Aufenthalts zu entgehen, in den nächsten zwei Jahre eine Aufenthaltserlaubnis beantragen.

Das Gesetz gibt den Ausländerbehörden einen großen Ermessensspielraum, eine solche Aufenthaltserlaubnis zu verweigern: Sowohl „ausländische Soldaten und ihre Familien“, als auch „Ausländer ohne Arbeit“ müssen damit rechnen, den Aufenthalt verweigert zu bekommen.

„Sie wollen uns zu Ausländern in unserer eigenen Heimat machen“, kritisierte der Vorsitzende der gewerkschaftlichen Zusammenarbeitsorganisation, Vladimir Alexejew den Gesetzentwurf gegenüber der schwedischen Außenministerin und derzeitigen KSZE- Vorsitzenden Margaretha af Ugglas. Af Ugglas ist es vermutlich zu verdanken, daß das neue Ausländergesetz nicht noch radikaler ausfiel, als von der Regierung ursprünglich geplant. Gegenüber Estlands Premier Lennart Meri hatte sie bei ihrem Besuch „Bedauern und Besorgnis“ über die Gesetzesinitiative geäußert.

Der dem Parlament zunächst vorliegende Entwurf sah eine Automatik vor: grundsätzlich kein weiterer Aufenthalt bei Arbeitslosigkeit. In der nordöstlichen Region Narva hätte somit rund die Hälfte der hier lebenden russischen Bevölkerung das Land verlassen müssen. In Narva demonstrierten dann auch nicht nur 10.000 Menschen gegen das neue Ausländergesetz, zugleich kündigten Transparente einen Generalstreik und Sabotageaktionen an.

Bereits Anfang Juni hatte das Parlament ein Gesetz erlassen, das bei der russischen Minderheit auf Kritik und bei der KSZE zumindest auf vorsichtig formuliertes Unverständnis gestoßen war. An den Kommunalwahlen im Oktober dürfen sich zwar alle EinwohnerInnen, die mehr als fünf Jahre in Estland leben – also auch der größte Teil der russischen Bevölkerung – beteiligen. Entgegen ursprünglicher Zusicherungen gegenüber dem Europarat erhalten sie jedoch nur das aktive und nicht das passive Wahlrecht. Reinhard Wolff