Tod und Wiedergeburt in der japanischen Politik

■ Opposition gründet eine neue Partei / Regierungspartei LDP zerfällt/ Gute Vorraussetzungen für Mitte-Links-Koalition nach den Neuwahlen

Tokio (taz) – Während sich Japans jahrzehntelang lethargische Opposition mit zwei Parteineugründungen innerhalb der letzten drei Tage schon auf die Regierungsübernahme vorbereitet, steht die seit 38 Jahren regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) vor dem inneren Zerfall.

92 LDP-Abgeordnete fanden sich gestern in Tokio zur Gründung einer neuen parteiinternen „Liga“ zusammen und forderten in Einzelgesprächen nach ihrer Zusammenkunft die LDP-Parteispitze zum Rücktritt auf. Gleichzeitig gründeten 44 Abgeordnete, die bereits am Tag zuvor aus der LDP ausgetreten waren, eine neue Oppositionspartei unter dem Namen „Shinseito“, zu deutsch: Partei der Wiedergeburt). Ihr neuer Vorsitzender, der ehemalige Finanzminister Tsutomu Hata (siehe Protrait Seite 11), hat nach den Wahlen am 18. Juli gute Chancen, zu Japans erstem Premierminister unter einer Oppositionsregierung ernannt zu werden.

Seit dem Sturz der Regierung von Premierminister Kiichi Miyazawa durch ein parlamentarisches Mißtrauensvotum am vergangenen Freitag erscheint Japans alte politische Ordnung jeden Tag weiter einzubrechen. Die Zeichen der Erosion sind in der Regierungspartei selbst am deutlichsten: „Wenn Miyazawa sterben würde, könnte die LDP gewinnen“, bemerkte Außenminister Kabun Muto in Anspielung auf ein erfolgreiches Mißtrauensvotum des Jahres 1980, in dessen Folge der damalige Regierungschef Masayoshi Ohira an einer Herzattacke starb, und die LDP daraufhin die Wahl gewann. Obwohl die Äußerung von den Mitarbeitern des Außenministeriums schnell als Scherz abgetan wurde, kommt sie im Seniorenkreis der LDP einer Selbstmordaufforderung an den Regierungschef gleich. Privat zeigten sich japanische Diplomaten entsetzt über die Aussagen Mutos.

Statt an den Tod zu appellieren, sprachen Japans populärsten Polit- Rebellen am Mittwoch nur noch von „Shinsei“, Wiedergeburt. In der neuen Gruppierung finden sich ehemals prominente Regierungspolitiker heute in der Opposition wieder – unter ihnen neben Ex-Finanzminister Hata auch der ehemalige LDP-Generalsekretär Ichiro Ozawa. Ozawa, der in der Öffentlichkeit nicht auftritt, gilt als Drahtzieher der jüngsten Umwälzungen. Aus seiner Person, der schon frühzeitig Kontakte zur Mafia nachgesagt wurden, nährt sich die Skepsis vieler Beobachter über die tatsächlichen Intentionen der neuen Partei. Öffentlich verkündete ihr neuer Vorsitzender Tsutomu Hata gestern ein Reformprogramm, das sich im wesentlichen auf die Bekämpfung von Korruption, der Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes und die Eindämmung bürokratischer Macht konzentriert.

Alle bisherigen Oppositionsparteien mit Ausnahme der Kommunisten begrüßten die Gründung der Hata-Partei. Nur gemeinsam mit den LDP-Abtrünnigen, die in ihren Wahlkreisen trotz des Austritts aus der LDP weiterhin auf persönliche Unterstützerkreise zählen können, haben Sozialdemokraten und andere Mitte-Links- Parteien eine Chance, die Regierung zu übernehmen. Bisher erscheinen die Voraussetzungen für eine solche Mitte-Links-Koalition günstig, da alle möglichen Partner eine Zusammenarbeit mit der alten LDP grundsätzlich ausschließen.

Allerdings könnte sich der Zerfalls der LDP nach den Wahlen beschleunigen und damit nochmals neue Verhältnisse schaffen. Bereits am Montag hatten elf LDP- Dissidenten eine zweite neue Partei unter dem Namen „Sakigake“ (deutsch: Partei der Verkündung) gegründet. Falls Teile der gestern gegründeten LDP-Liga ihren Protest gegen die Parteispitze aufrechterhalten, könnte dies zu einer weiteren Spaltung der LDP führen.

Wer dann mit wem koaliert, läßt sich verläßlich kaum voraussagen. Doch könnten die Sozialdemokraten als bislang größte Oppositionspartei mit dem weitestgehenden Reformprogramm während der Regierungsbildung immer weiter ins Abseits gedrängt werden. Georg Blume