Die Crux mit der Sprache

■ Du sitzt in deinem Sprachghetto, schaust über die Mauer und siehst nur Verlierer...

Wenn Reden Silber ist und Schweigen Gold, wo kommt dann dieses viele Blech her, fragst du dich. Eine Antwort findest du nicht. Geschwiegen hast du lange genug. Auf das versprochene Gold wartest du noch. Immer hast du gewartet: auf eine Antwort. Auf Gold. Immer hast du versucht, die Welt durch Schweigen zu ändern. Dich durch dein lautes Schweigen verständlich zu machen. Wer schweigt, sagtest du, kann nicht überhört werden. Nun rede!

Nach einer in der Türkei weit verbreiteten Meinung gewinnt man mit jeder neu erlernten Sprache eine neue Persönlichkeit hinzu. „Eine Sprache, ein Mensch; zwei Sprachen, zwei Menschen“, heißt die Gleichung. Die Angst vor Schizophrenie ist wahrscheinlich mit einer der Gründe, weshalb viele deiner Landsleute sich dagegen wehren, Deutsch zu lernen. Die Sprachlosigkeit ist eine Schutzhülle bei Berührungen mit der Umwelt. Wer die Sprache nicht versteht, kann schwer damit beherrscht werden.

Dir aber reichte es nicht, diese dir fremd gebliebene Sprache als Umgangssprache zu lernen; du versuchst, darin zu wohnen und zu schreiben. Vielleicht aus Liebe, vielleicht aus Ratlosigkeit oder aus Trotz. Ob das eine kluge Entscheidung war, sei dahingestellt. Wahrscheinlich mußte das einfach so sein, denn dein Wunsch ist, deine gedankliche und physikalische Welt in Übereinstimmung zu bringen. Die Gedanken können nicht mit konservierten Worten gefaßt werden; sie wollen in eine Sprache gekleidet sein, die nicht von der Stange kommt, sondern maßgeschneidert ist. In welche Sprache du deine Gedanken hüllst, hängt davon ab, wo dein Schneider sitzt.

„Gestern im Krankenhaus wurde einem Patienten – einem Norddeutschen aus Hamburg – ein dreizehnsilbiges Wort mit Erfolg herausoperiert.

Einige deutsche Wörter sind so lang, daß sie Perspektive haben ... Diese Dinger sind keine Wörter, sie sind alphabetische Prozessionen ... Sie geben dem schwächsten Thema einen martialischen Anreiz.“

Mark Twain spricht dir aus dem Herzen. Seine amüsante Abhandlung über „The Awful German Language“ in seinen Reisememoiren „A Tramp Abroad“ soll Kaiser Wilhelm II. große Freude bereitet haben: Twain hat sich nicht nur über die Länge der zusammengesetzten Wörter, sondern auch über den nie enden wollenden deutschen Satz lustig gemacht. Auch du erinnerst dich mit Schrecken an die vielen Einschübe, Appositionen, Relativsätze, Nebensätze, Gedankenstriche, Klammern und Klammern in Klammern, die zwischen dir und dem Sinn standen. Einmal behauptete ein südamerikanischer Kollege deutscher Abstammung und Zunge dir gegenüber, die Deutschen hätten ein unerotisches Verhältnis zu ihrer Sprache. Bis man die Hüllen der Sprache Schicht für Schicht abgelegt habe und zum Kern der Sache vorgedrungen sei, sei einem die Lust vergangen.

Lange ist es her, daß du das schiefe, wacklige Häuschen deiner Kindheitssprache verlassen und vor fremden Häusern, die dir von außen wie prächtige Paläste vorkamen, um Einlaß ersucht hast. Wie dem Jungen im Märchen, dem die Fensterscheiben der Häuser auf dem nächsten Hügel beim Sonnenuntergang wie aus Gold glitzerten, zogen dich die Häuser der anderen an. Wie er stelltest auch du fest, daß im Sonnenschein auch die Fensterscheiben deines eigenen Hauses glitzerten. Dein eigenes mußtest du verlassen, um in fremden Häusern aufgenommen zu werden; Heimweh und Sehnsucht nach den eigenen vier Wänden, in denen du dich nach Herzenswunsch austoben kannst, haben dich immer begleitet. Zurück wolltest du aber nicht. Denn Flucht ist einfacher als Rückkehr: Wenn die Rückkehr in Enttäuschung mündet, bleiben dir keine Wünsche mehr.

Du sitzt in deinem Sprachghetto und schaust über die Mauer. Draußen wird ein Fest gefeiert. Da du nicht uneingeschränkt über die Sprache verfügst, bist du bei diesem Feste ein Zaungast. Du sitzt auf der Mauer und denkst nach:

Viele meinen, du könntest im Kampf gegen die Sprache nur verlieren, weil du ihn mit fast 30 zu spät aufgenommen hast. Die Jahre danach zählten nicht mehr. Sie haben recht. Wer aber kann gegen die Sprache gewinnen? Tag für Tag siehst und hörst du nur Verlierer um dich, sobald sie den Mund auftun, egal wo und in welchem Alter sie auf die Welt kamen. Du hast nichts gegen Verlierer. An das Verlieren gewöhnt es sich leicht, viel leichter als ans Gewinnen. Das Verlieren hat etwas Vertrautes, etwas Heimeliges an sich, während das Gewinnen mit einem Gefühl der Übelkeit verbunden ist. Wer in verschiedenen Lebensabschnitten kurz den Atem angehalten und Bilanz gezogen hat, wird festgestellt haben, daß der Verlust immer größer ist als der Gewinn. Verlieren ist nichts Schmachvolles; im Gegenteil, es ist ein heroischer Akt, der uns in seiner Vertrautheit beruhigt und uns moralisch festigt. Es hat nichts Kompromittierendes, nichts Korrumpierendes an sich wie das Gewinnen. Gegen das Verlieren hast du nichts. Du willst dich bloß nicht kleinkriegen lassen. Du willst lustvoll und spielerisch verlieren, das ist alles. Kemal Kurt