■ In Japan ist die alte politische Ordnung zerbrochen: Das Wunder der Wende
Seit einem Jahrhundert wartet Japan auf diesen Tag. Was die demokratischen Reformer während der japanischen Öffnung zum Westen im 19. Jahrundert nicht vermochten, was in den dreißiger Jahren am Putsch der Militärs scheiterte und in der Nachkriegszeit durch die antikommunistische Politik der amerikanischen Besatzungsmacht mit kühlen Geheimdienstmethoden verhindert wurde, steht endlich vor der Tür: Japans lang erhoffter demokratischer Machtwechsel. Alles deutet darauf hin, daß die japanischen WählerInnen bei den Neuwahlen am 18. Juli eine neue Mehrheit ins Parlament schicken, die mit der 38jährigen Alleinherrschaft der bislang allmächtigen Liberaldemokratischen Partei (LDP) bricht.
Der Weltwirtschaftgipfel der G7-Staaten Anfang Juli in Tokio bietet den westlichen Staatschefs inmitten der heißen Wahlkampfphase Gelegenheit, ihr Japan-Bild zu korrigieren. Es wird Zeit, die bislang gängigen Japanbeschreibungen ad acta zu legen: „Einparteiensystem“, „Yen-Diktatur“, „Bürokraten-Planwirtschaft“. Das alles paßt nicht mehr, wenn der demokratische Wechsel in Japan möglich wird.
Europa und Amerika wird die Umstellung in Tokio nicht leicht fallen. Gerade weil der gesamte Westen das korrupte LDP-Regime jahrzehntelang tatkräftig stützte, beschränkt sich seine Japan-Diplomatie noch heute auf Kontakte mit der Regierungspartei. Daß ein GATT-Kompromiß mit einer neuen Regierung in Tokio leichter wird, steht kaum zu erwarten. Die LDP habe zu den Wünschen der amerikanischen Vormacht immer nur Ja gesagt, lautet ein in Japan oft gehörter Vorwurf an bisherige Regierungen. Wird das Land nun das Nein- Sagen lernen?
Die einfachen BürgerInnen in Japan interessieren die außenpolitischen Kalküle derzeit herzlich wenig. Sie sehnen sich nach einer Wahlentscheidung gegen die ewig Mächtigen. 38 Jahre herrschte in Japan die gleiche Regierungspartei, bis es sich der Premierminister leisten konnte, mit der Mafia zu kollaborieren. In Japan heißt die Mafia eben nur Yakuza. Sogar im allgemeinen Verständnis von Politik kennen Japan und Italien erstaunliche Ähnlichkeiten: die Vorliebe fürs Taktieren, das Versteckspiel mit der Macht, das Gespür für Simulation und Dissimulation der Regierenden ist in beiden Ländern so ausgeprägt, daß Politik im reinen Sinne staatlicher Ordnungsfunktion noch heute kaum eine Chance hat.
Aus dem gleichen Grund erschien ein Regierungswechsel in Japan bislang undenkbar. Die seit 1955 herrschende Liberaldemokratische Partei (LDP) hatte das politische Parkett taktisch so geschickt und facettenreich besetzt, daß eine Opposition geradezu überflüssig erschien, zumindest immer als Anhängsel fungierte. Mit Vorliebe inszenierte die LDP jahrelange Machtkämpfe, wie sie in Europa in der Regel nur zwei Parteien gegeneinander führen, innerhalb der eigenen Reihen. Aus diesem Grund bestand diese Partei seit ihrer Gründung vor 38 Jahren aus mindestens vier Fraktionen, den habatsu, deren Streit das tatsächliche Machtmonopol der obersten Parteistrategen immer verdecken konnte und sollte.
So rätselten die Japaner vierzig Jahre lang über den nächsten Spitzenkandidaten der LDP, der – höchste Errungenschaft des Spiels mit der Macht – alle zwei Jahre wechselte, damit auch ja keine Langeweile im Führungskampf aufkam. Nie aber kam dabei irgendjemand auf den Gedanken, nach einem möglichen Regierungschef aus den Reihen der Opposition zu fragen – erst seit vergangenem Freitag ist in Japan von nichts anderem mehr die Rede.
Wird also endlich ein Sozialist Premierminister im erfolgreichsten kapitalistischen System der zweiten Jahrhunderthälfte? Wie etwa wäre es mit Hirotaka Akamatsu, dem jugendlichen Generalsekretär der größten Oppositionspartei, ein moderner, moderater Sozialdemokrat? Wäre Akamatsu nicht prädestiniert, „la force tranquille“ und den japanischen Clinton zugleich zu verkörpern? Würde er nicht uns alle in Europa und Amerika von der Angst vor der japanischen Wirtschaftsmacht befreien?
Aber nein. Einen Sieg der Rosen wie 1981 Mitterrand in Frankreich wird es in Japan nicht geben. Mit einer Arbeitslosenrate von knapp zweieinhalb Prozent und einem Plus im Staatsbudget wartet niemand auf den Retter aus Arkansas – auch wenn die für japanische Verhältnisse düstere Wirtschaftslage des letzten Jahres der LDP viele Lorbeeren geraubt hat. Gerade im Augenblick der tiefsten politischen Zäsur seit Kriegsende steht für die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt fest: die Bedeutung der Politik wird sich in Japan nicht ändern. Denn die Motoren der Erneuerung arbeiten mit dem ewigen politischen Brennstoff der Mißgunst um die Macht.
Nicht die Überzeugungskraft der Opposition, sondern erst die Spaltung der Regierungspartei ermöglicht die Wende. Schon buhlen drei neugegründete Parteien ehemaliger Regierungstreuer um die Wählergunst. Noch eint diese Jungpolitiker nicht mehr als der Rachedurst gegenüber den gehaßten Parteisenioren, noch sind ihre Parteien nicht mehr als Verschwörergruppen, die gegenüber der Regierung Verrat verübten.
Doch schon mit den Wahlen kann die politische Neuordnung in Japan Form und Gestalt bekommen. Die Wende würde in Japan nicht nur die Fassaden erneuern: Die alte LDP repräsentiert andere WählerInnenkreise als das nun angestrebte Regierungsbündnis zwischen der neuen konservativen Partei und den alten Mitte-Linksparteien. Schon immer hatte die LDP ihre Wähler mehrheitlich auf dem Land und die Linke ihre Klientel vorwiegend in den Städten gefunden. Eine neue Regierung ohne die LDP müßte ihre Politik auf diese urbanen Gesellschaftsschichten ausrichten. Allein im Großraum Tokio leben heute annähernd 30 Millionen Menschen, ein Viertel der japanischen Bevölkerung.
Die neue Regierung könnte die seit langem von Soziologen beschworene Entwicklung von der Produzenten- zur Verbrauchergesellschaft vorantreiben. Anachronistische Importschranken, mit Ausnahme des für alle unantastbaren Reisimportverbots, könnten fallen, womit der Preis etwa eines Pfirsichs in Tokio von heute vier Mark auf die Hälfte sinken würde. Absehbar wären Steuererleichterungen für die Endverbraucher und zusätzliche Auflagen für Unternehmen.
Entscheidend für die Wende aber könnte sein, daß die LDP- Verräter ausnahmslos nicht über nennenswerte Beziehungen zum Großkapital verfügen, mit dessen Geld die LDP seit jeher ihre Wahlkämpfe finanziert. Arbeitgeberpräsident Gaishi Hiraiwa, der die tausend größten japanischen Unternehmen repräsentiert, schloß diese Woche Spenden an andere Parteien als die LDP grundsätzlich aus. Eine bessere Garantie für den Neuanfang kann es für Japans Demokratie eigentlich nicht geben. Man stelle sich eine Regierung in Tokio vor, bei der Mitsubishi, Toyota und Sony nicht das Sagen haben! Georg Blume, Tokio
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