Angst vor dem Leben in Freiheit

■ Gesichter der Großstadt: Der 37jährige Häftling Siegfried B. hat fast 19 Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht / Auf die Zeit nach der Haft bereitet ihn keiner vor

„Klar habe ich Angst vor der Entlassung“, sagt Siegfried B. nachdenklich im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt Tegel. Nach acht Jahren im sogenannten „Drogenhaus“ in Tegel, ohne jegliche Vorbereitung auf die Zeit draußen, noch immer Analphabet, der lediglich etwas lesen kann, muß er ab Oktober selbst versuchen, sein Leben zu gestalten. Freude über das bevorstehende Ende seiner Haftzeit kommt da nicht auf.

„Draußen steh' ich vor dem Nichts“

Mehr als ein Absitzen war die Gefängniszeit für den heute 37jährigen nicht. Unterstützung auf ein Leben in Freiheit hat er in dieser Zeit nicht bekommen. Eine Therapie seiner Lese- und Schreibschwäche wurde nach nur sieben Monaten abgebrochen. Doch ohne die Fähigkeit, eine Stellenausschreibung zu lesen oder eine Bewerbung zu schreiben, wird schon die Arbeitssuche für den 37jährigen zum Lotteriespiel werden. Bestehende soziale Kontakte konnte er aufgrund mangelnder Freigänge während der langen Haftzeit nicht aufrechterhalten. „Ich stehe doch, wenn ich rauskomme, vor dem Nichts. Ich habe keine Wohnung, keine Arbeit, keine Freunde“, sagt er resigniert.

Neu ist Siegfried B. diese Situation nicht. Bereits im Dezember 1984 stand er nach fünfjähriger Haftstrafe wegen schweren Raubs mit Körperverletzung vor dem selben Problem. „Bei meiner Entlassung habe ich den Richter gefragt, ob er mich nicht gleich wieder in Beugehaft nehmen kann“, beschreibt er seine damalige Verzweiflung. Der Richter konnte selbstverständlich nicht, und nach zwei Monaten im Obdachlosenasyl wurde Siegfried B. bereits zwei Monate später, im Februar 1985, erneut straffällig. Jetzt, nach acht weiteren Jahren im Gefängnis, droht ihm dieses Schicksal noch einmal.

Knast heißt: Verwahrung statt Behandlung

„Ich bin die ganzen Jahre über in Tegel nie behandelt, sondern immer nur verwahrt worden“, kritisiert er die Anstaltsleitung. Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt oder eine Wohngruppe habe man ebenso abgelehnt wie Freigänge. Sieben Jahre habe er auf seinen ersten alleinigen Freigang warten müssen. Als Folge kam er nicht zurück, sondern versuchte zwei Wochen lang, eine zerbrechende Beziehung zu retten, bevor er erneut festgenommen wurde. Seitdem wurden alle Hafterleichterungen abgelehnt. Der geplante Besuch einer Sprachschule sei ihm ebenso verwehrt worden wie weitere Ausgänge, obwohl sich sowohl der Anstaltspfarrer als auch Sozialhelfer anboten, ihn zu begleiten.

Mit sechs Jahren zum ersten Mal ins Heim

Unterstützung erhielt der schweigsame und verschlossene Mann schon während seiner Kindheit nicht. Mit sechs Jahren kam er in ein Heim, blieb dort, bis er mit achtzehn herausflog. Lediglich bis zur sechsten Klasse besuchte er die Sonderschule, danach erhielt er keinerlei Schulausbildung mehr. Als Alkoholikerin konnte ihm seine Mutter ebensowenig Fürsorge geben wie der Vater, der seine minderjährigen Kinder frühzeitig „anlernte“. „Mein Vater nahm mich auf seine Touren mit, als ich noch ziemlich klein war. Erst später habe ich mitbekommen, daß das, was wir machten, vielleicht unrecht war“.

Ein ganzes Leben hinter Gittern

Drei von Siegfried B.s Brüdern sitzen ebenfalls in Tegel, alle elf Geschwister sind mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Seit er mit 14 Jahren strafmündig wurde, hat Siegfried B. 226 Monate in Haft verbracht und lediglich 50 Monate in Freiheit. Ohne fremde Hilfe wird der Aktenberg über den „Fall B.“ sicher weiter anwachsen.

Diese Entwicklung will er unbedingt verhindern. „Ich möchte vor meiner Entlassung wenigstens raus können, um auf die Ämter zu gehen, einen Wohnberechtigungsschein beantragen und mir Wohnung oder Arbeit suchen“, fordert der 37jährige. Doch ihm ist auch klar, daß er eine Person braucht, die ihn dorthin begleitet und ihm wenigstens beim Ausfüllen von Formularen hilft. Doch bis heute kennt Siegfried B. niemanden, der ihn nach der Entlassung unterstützen könnte. Hella Kloss