"Edelabhängigkeit auf Rezept"

■ Tranquilizer und Antidepressiva: "Schwindel-Frei" ist bundesweit das erste Beratungsprojekt, das sich voll auf medikamentenabhängige Frauen konzentriert

„Das war kein Schlucken, das war ein Fressen“, umreißt Petra K.* knapp ihre Suchtgeschichte. Medikamentenabhäbgigkeit, das hieß im Fall der 36jährigen mehrere Dutzend Tabletten am Tag, Tranquilizer und Codein—Verschnitte, Beruhigungs- und Aufputschmittel abwechselnd. Morgens wachte sie schweißgebadet und mit Krämpfen auf, abends plagten sie Halluzinationen: „Ich hatte das Gefühl, daß mir Hunderte von Käfern unter der Haut, in der Haut sitzen und habe mich selber geschlagen, um die wegzubekommen.“ Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch entschloß sie sich zum Entzug. Seit fünf Monaten ist sie clean, das erste Mal seit 12 Jahren. Regelmäßig nimmt sie seither an den Gruppentreffen von „Schwindel-Frei“ teil.

Das Beratungsprojekt in Tempelhof ist bundesweit das erste, das sich voll auf medikamentenabhängige Frauen konzentriert. Zufall ist das nicht. Die „Edelabhängigkeit auf Rezept“, so Doris Latta sarkastisch, ist längst zur Domäne der Frauen geworden. Zusammen mit einer Sozialwirtin leitet die Psychologin seit knapp einem Jahr „Schwindel-Frei“. Ihre Bilanz deckt sich mit der bundesweiten Statistik. Zwei Drittel der nach Schätzungen rund 800.000 Medikamentenabhängigen in den alten Bundesländern sind Frauen. In der Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren werden ihnen mehr als doppelt so viele Pillen verordnet wie Männern, vor allem dämpfende und ruhigstellende Mittel. Das, so Latta, sei eine geschlechtsspezifische Verordnungspraxis, die für Frauen mit bestimmten Symptomen den Arztbesuch zum Risikofaktor werden läßt. „92 Prozent der Frauen, die zu uns kommen, sind allein durch unsachgemäße Medikamentierung durch den Arzt süchtig geworden.“

Gerade bei psychosomatischen Erkrankungen und psychosozialen Problemen gibt es statt ärztlicher Beratung und Hilfe häufig nur Chemie auf Rezept. Rezeptpflichtige Tranquilizer stehen an der Spitze der Suchtmittel, gefolgt von Schmerzmitteln und Appetitzüglern mit aufputschender Wirkung und sogenannten Antidepressiva. „Die Frauen werden einfach ruhiggestellt“, so Doris Latta.

Der ehemaligen Studentin Tina R.*, die unter starken Kontaktängsten litt, verschrieb der Arzt spannungs- und angstlösende Tabletten, die nach spätestens vier Wochen regelmäßiger Einnahme abhängig machen. „Der sagte nur, Vorsicht, kann gefährlich werden, und verschrieb dann munter weiter.“ Tina holte ihre Rezepte über ein Jahr lang bei ihm ab. „Mir ging es am Angfang auch besser. Ich konnte unter Leute gehen. Aber dann wurde es immer schlimmer.“ Schmerzen, Halluzinationen, Angstzustände nahmen zu. Aus eigener Kraft organisierte sie sich einen kalten Entzug auf der Suchtstation einer Klinik.

Für viele Frauen kommt jedoch die schwere Krise erst nach dem harten Entzug. Clean sein, so Doris Latta, „bedeutet Konfrontation mit dir selbst. Mit dem, was du durch die Tabletten verdecken und nicht mehr spüren wolltest. Es heißt, dein Leben zu verändern“.

Linda S.* ist Mitte 30, aber sie sagt, „kennen tu' ich mich erst jetzt“. Als die ehemalige Stationsschwester den Streß des Klinikalltags nicht mehr bewältigen konnte, holte sie sich Unterstützung im Medikamentenschrank. Ihre Pillen-Cocktails schluckte sie 16 Jahre lang. Alles ging plötzlich leichter, auch im Privatleben. „Ich war nie angepaßt und konnte mich selbst überhaupt nicht leiden. Plötzlich war ich lieb und nett.“ Erst in der Therapie brach alles auf, der Erwartungsdruck der Eltern, die lieblose Familie und die Beziehung zum Vater, der ihr nach der fünften Fehlgeburt sagte, „daß ich ja wohl selbst dafür zu doof bin“.

Die Geschichten, die Hintergründe der Sucht gleichen sich. Immer wieder spielen Doppelbelastung, hohes Anpassungsbedürfnis, die ständige Sorge, für alles und jeden verantwortlich zu sein und gefühlskalte Beziehungen eine Rolle. 20 Prozent der Klientinnen von Doris Latta versuchen mit Hilfe von Medikamenten die zerstörerischen Erfahrungen eines sexuellen Mißbrauchs zu bewältigen. Pillen und Tabletten werden so zum Schutzschild, zur Hilfe, die es möglich macht, nach außen hin den Schein eines intakten Lebens zu waren: Und das langfristig: an die Hälfte der süchtigen Frauen konsumieren länger als zehn Jahre.

„Schwindel-Frei“ bietet ihnen professionelle Beratung und Unterstützung, auch wenn sie nicht clean sind. Die Frauen können anonym bleiben und einfach vorbeikommen. Allein für die Teilnahme an der Frauengruppe, der sich Linda, Petra und Tina angeschlossen haben, ist ein Entzug notwendig. Den hat Linda seit drei Jahren hinter sich. „Rückfall“, sagt sie nachdrücklich, „ist für mich indiskutabel, den überlebe ich nicht.“ tast

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