Kathalaki & der Pretty Fighter

Das „Theater der Welt“, zwei Tanzabende und ein Kritikergespräch  ■ Von Jürgen Berger

Es hatte etwas von einer Pflichtübung, als August Everding als Präsident des Deutschen Internationalen Theaterinstituts (ITI) und Mitorganisator des „Theaters der Welt“ am Ende eines Kritikergespräches noch kurz auf die Schließung des Berliner Schiller Theaters zu sprechen kam. Unter den anwesenden Theaterkritikern löste sein kurzer Epilog kaum Reaktionen aus. In den Gesprächen am Rande des Festivals ging es um die weiterreichende Sorge, der Vorgang in Berlin könnte Signalwirkung haben und den Anfang vom Ende des einmaligen deutschen Stadt- und Staatstheatersystems einläuten.

Während in München also vor den Vorstellungen Unterschriftenlisten gegen die Schließung des Schiller Theaters kursieren, machen sich inzwischen diejenigen Sorgen, die bisher von notwendigen Strukturreformen immer nur geredet haben, allen voran Everding, der als einer der einflußreichsten Männer im Deutschen Bühnenverein mehr in Bewegung setzen könnte. So manövriert man das Theater in die Defensive. Merkwürdig war es also schon, daß da zwei Stunden lang über das „Theater der Welt“ und die Irritation unserer Sehgewohnheiten durch die zum Teil fremdartigen Inszenierungen diskutiert wurde, während gleichzeitig das altehrwürdige deutsche Theater in den Grundfesten wankt.

Irritation war somit das Stichwort, in mehrfacher Hinsicht. Denn obwohl die Situation prekär und die Frage sinnvoll ist, ob die Unmenge von Festivals nicht mitverantwortlich für die Krise der Theater ist (etwa weil Inszenierungen zunehmend auf Festivals hin konzipiert werden), ging es auf dem Podium überwiegend um Grabenkämpfe. Da standen sich Theater heute und Theater der Zeit gegenüber, da fehlte Renate Klett, als Programmdirektorin des „Theaters der Welt“ eigentlich die wichtigste Person auf dem Podium, weil sie tatsächlich (oder angeblich?) nicht eingeladen wurde, und da war man am Abend denn doch heilfroh, sich im Münchner Volkstheater einer ganz anderen Irritation aussetzen zu können. „La Sensitive“ der indischen Keli Co. stand auf dem Programm, traditioneller indischer Tanz, der in Deutschland selten präsentiert wird.

Mit der Keli Co. kam eine Truppe nach München, die den sogenannten Kathalaki tanzt, eine rituelle Beschwörung göttlicher Kräfte, konzentriert auf ein „Kalam“, ein kunstvoll auf den Theaterboden gestreutes „Sandgemälde“ – das Gesicht der Göttin Badhrakali, aus dem Boden wachsend und von fünf männlichen Tänzern umkreist, die sich in rhythmische Beinstakkati steigern, während der Körper hüftaufwärts zu ruhen scheint. Allerdings, mit jedem Finger, mit rollenden Augen und mit ungeheuerlicher Mimik – Kathalaki-Tänzer können nahezu jeden Gesichtsmuskel einzeln bewegen – werden Geschichten erzählt, die sich vor allem dann erschließen, wenn Annette Leday Traditionsmuster durchbricht und zwei Tänzer etwa zu balzenden Vögeln werden. Die französische Regisseurin studierte mehrere Jahre den Kathalaki und choreographierte vor vier Jahren einen „Lear“ mit ihren Tänzern aus einer der wichtigsten Kathalakischulen in Südindien.

„La Sensitive“ beginnt mit einem fulminanten Gewitter und dem Erwachen der Natur, dargestellt von einem Tänzer, der auf dem Boden zusammenkauert seine Hände „tanzen“ läßt, und endet mit der Zerstörung des Göttinnenbildes – während der zweite Tanzabend auf dem „Theater der Welt“ mit 16 mm eröffnet wurde und als nicht endenwollende Choreographie auslief. Am Anfang von Wim Vandekeybus' „Her Body doesn't fit her soul“, ein mit „Theater der Welt“ koproduziertes, im Cuvilliés Theater uraufgeführtes Gesamtkunstwerk, steht ein Film über zwei getrennte Liebende. Er arbeitet nachts, sie tagsüber, und vielleicht ist das auch besser so, denn die beiden haben sich kaum etwas zu sagen.

Es dauert lange, bis schließlich das Licht angeht und die am Boden festgeschraubte Tänzerin sich in zuckenden Bewegungen von der Stelle rühren will. Dann wird sie losgeschraubt, taumelt und findet langsam zu jenem Tanz, für den der belgische Choreograph Wim Vandekeybus steht: Es ist ein Zucken, ein Um-die-eigene-Achse- Wirbeln und eine Belastung des Körpers bis hin zu bodenakrobatischen Einlagen. Aggressivität liegt in der Luft, vor allem wenn die Tänzerinnen auf die Bühne kommen, als sei Luc Bessons „Nikita“ in fünffacher Ausfertigung unterwegs. Wenn sie loslegen, wird es tatsächlich atemberaubend, denn was Vandekeybus an blitzartigen Bewegungen, an Aufeinander- Losstürmen und Pas-de-Deux- Einlagen in From von Nahkämpfen anbietet, ist konsequente Choreographie und könnte für sich stehen. Aber der Choreograph ist leider ein Grenzgänger, der sich in allen Künsten zu Hause fühlt und dem das Tanzhemd schon längst zu eng geworden ist, wie man vor vier Jahren in Avignon sehen konnte, als er mit „Das Gewicht der Hand“ einen ähnlich überbordenden Abend wie jetzt inszenierte.

Bei Vandekeybus werden die Tänzer zu allem und vor allem auch zu Schauspielern, während immer wieder die Leinwand herunterschwebt und die Fortsetzungsgeschichte der beiden Liebesverunglückten präsentiert. „Yeah, I'am a pretty fighter“, sagt eine der Tänzerinnen gegen Ende, und das könnte auch für den Hang des Choreographen zum Gesamtkunstwerk gelten, in dem er aus Film, Licht, Tanz und Sprechschnipseln einen Bühnenvideoclip mixt. Vandekeybus ist Multimedialist und ein Pretty Fighter auf allen Schlachtfeldern. William Forsythe scheint es ihm besonders angetan zu haben, denn wenn er etwa mit dem Verhältnis von Licht und Dunkelheit spielt, macht er aus Forsythes fahrbarem Scheinwerfer („Enemy in the figure“) eine kleine Bürolampe. Und wenn er Sprecherinnen und Sprecher an einer Art Verhörtisch mit Mikrofon setzt, bedient er sich bei Forsythes „Befragung des Robert Scott“. Das eigentlich Verstörende des Tanzabends stellt sich erst in der Rückschau ein. Denn während des Schlußapplauses nimmt man wahr, daß einer der „Tänzer“ blind ist.