Im Stau sind alle Nigerianer gleich

Kein Vor, kein Zurück: Nigerias unverschämt billiges Benzin hält die Straßen voll und die Staatskassen leer  ■ Aus Lagos Bettina Gaus

Ich bin ganz und gar gegen eine Erhöhung der Benzinpreise“, sagt der nigerianische Geschäftsmann John Adeleke im obersten Stock eines Bürohochhauses in Lagos. „Die Bewegungsfreiheit ist das letzte, was der Bevölkerung vom Reichtum des Ölbooms noch geblieben ist.“ Umgerechnet nicht einmal fünf Pfennige kostet der Liter Benzin in dem westafrikanischen Staat, der der fünftgrößte Ölexporteur der Welt ist. Aus dem Fenster geht der Blick über die sechsspurige Stadtautobahn. Seit einer halben Stunde hat sich der Verkehr in Richtung Innenstadt keinen Meter vorwärts bewegt. Tausende von Autofahrern stehen im Stau. Stundenlang. Wie jeden Tag.

Das Leben der größten Stadt des bevölkerungsreichsten afrikanischen Landes ist vollständig auf den Autoverkehr eingestellt. Eine Alternative gibt es nicht – weder Straßenbahn noch U-Bahn. Private Kleinbusse ersetzen ein funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz. Geschätzte sechs Millionen Einwohner wälzen sich in endlosen Blechkolonnen täglich von ihrer Wohnung zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen. Der Ölboom der siebziger Jahre hat zu einer beispiellosen Landflucht geführt: Es gibt heute in Nigeria fünfmal mehr Großstädte als noch vor zwanzig Jahren. Im Dschungel des Verkehrs geht es um das Überleben des Stärksten: „Der nigerianische Fahrer ist bereit, jede Herausforderung anzunehmen“, schreibt der Dichter Chinua Achebe. „Der Fahrer vor ihm ist eine solche Herausforderung und muß in seine Schranken verwiesen und zurückgelassen werden, wie auch immer die Verkehrslage sein mag.“

Jeder Zentimeter, der mit Lenkrad und Gaspedal zu erreichen ist, wird genutzt. Im Stadtviertel Agege hat sich die Autolawine auf einer vierspurigen Schnellstraße in einer halben Stunde etwa 800 Meter weit vorwärts bewegt. Dann ist Schluß: Der entgegenkommende Verkehr blockiert – stehend – alle Fahrbahnen. Der einzige Ausweg: eine ungeteerte Seitenstraße, vorbei an Müllbergen, Kiosken in alten Containern, hölzernen Gemüseständen. „Gib nicht auf – dein Glück ist schon unterwegs“, ist auf einem Autoaufkleber zu lesen. Na und – wer ist das nicht? Die wirklich spannende Frage ist doch: Kommt es jemals an? „Das Chaos in Lagos zeigt, daß das Gesetz hier nicht mehr gilt“, sagt John Adeleke. „Der Verkehr ist der Spiegel unserer Probleme.“

Der Stau hebt Klassenunterschiede auf. Das neueste Mercedes-Modell, dessen Besitzer auch durch Goldkettchen, schwere Ringe und goldene Uhr als erfolgreich ausgewiesen ist, steht neben dem überfüllten Sammeltaxi, dessen Fahrer hier – und nur hier – eine Chance hat, den Reichen zu besiegen: im Kampf um die nächsten zehn Zentimeter.

„Wenn ich als Wirtschaftsfachmann rede, dann sage ich: nicht erhöhen“, erklärt der Journalist Ray Ekpu. „Es gibt hier nicht so viele soziale Hilfen für die Armen.“ Als vor einigen Wochen das Benzin in der Stadt knapp wurde, konnten viele Angestellte nicht zur Arbeit kommen: Die Preise der privaten Transportunternehmer schossen in unerschwingliche Höhen. Den Passagieren wurde das Doppelte, mancherorts gar das Vierfache der üblichen Tarife abverlangt.

Eine Erhöhung der Benzinpreise würde automatisch Produkte verteuern, die über weite Strecken transportiert werden müssen – und das sind nahezu alle Güter. Bei vielen Waren hat sich die Bevölkerung ohnehin bereits an Teuerung gewöhnen müssen: Die Inflation beträgt offiziellen Angaben zufolge rund 60 Prozent, aber die Preise für bestimmte Produkte des täglichen Bedarfs sind in den letzten Monaten um mehrere hundert Prozent geklettert. Die Straßenverkäufer, die am Rande des Staus ihren Lebensunterhalt verdienen, bieten Luxuswaren feil: eine kleine Plastiktüte voll sauberen Trinkwassers, die rund doppelt soviel kostet wie ein Liter Benzin. Einen Laib Brot, der etwa 45mal so teuer ist wie der Treibstoff. „Ich verdiene 600 Naira im Monat und muß eine Frau und zwei Kinder ernähren“, sagt der fest angestellte Fahrer einer Mietwagenfirma. „Yam kostet mich für eine Mahlzeit für meine Familie etwa 20 Naira. Wo soll ich noch sparen?“ 1982 brachte Nigerias Öl noch 37,10 Dollar pro Barrel – heute nicht einmal mehr die Hälfte.

Der Ausspruch eines nigerianischen Finanzministers der 70er Jahre, der Staat verdiene so viel Geld, daß er nicht mehr wisse, was er damit anfangen solle, ist berühmt geworden. Aber die fetten Jahre sind längst vorbei. Im Vertrauen darauf, daß das schwarze Gold immerwährenden Reichtum bescheren würde, sind schwere wirtschaftspolitische Fehler begangen worden, die sich heute rächen: Die Landwirtschaft wurde vernachlässigt, statt dessen wurden die Öl-Dollars in ehrgeizige Eisen- und Stahl- und Automontagewerke investiert – die Abhängigkeit der Wirtschaft von teuren Importgütern war vorgezeichnet.

Wertvolle Devisen müssen nicht nur für dringend benötigte Ersatzteile ausgegeben werden: Die Welternährungsorganisation FAO schätzt, daß Nigeria in diesem Jahr allein eine Million Tonnen Getreide importieren muß. Der Niedergang der Wirtschaft hat eine mehrfache dramatische Abwertung der Naira erzwungen: 1980 wurde sie noch für zwei Dollar gehandelt, heute werden in Wechselstuben mehr als 30 Naira für einen Dollar bezahlt. Die Mittelschicht, die sich einst teure Luxuskarossen und Reisen nach Europa leisten konnte, ist verarmt.

Das einzige, was den Nigerianern noch geblieben ist – staatlich subventioniertes Benzin und der feste Glaube, es stehe unbegrenzt zur Verfügung: Mit rund 450 Litern gibt der Journalist Onome Osifo-Whiskez seinen Monatsbedarf an, eine Menge, die auch sein Kollege Dele Omotunde verbraucht: „Ich habe lange in Lagos gearbeitet und 140 Kilometer weit weg gewohnt, weil ich hier keine Wohnung gefunden habe.“

Den nigerianischen Staatshaushalt kommen die Subventionen teuer zu stehen: Für einen Liter Benzin müssen an den Tankstellen 0,70 Naira bezahlt werden. Die Förder- und Transportkosten aber betragen nach Angaben der staatlichen Erdölgesellschaft NNPC mit sechs bis sieben Naira rund das Zehnfache. Die Militärjunta hält eine Erhöhung der Benzinpreise für unumgänglich, Weltbank und Internationaler Währungsfonds verlangen sie als Voraussetzung für Umschuldungsprogramme. Doch bis jetzt traute sich die Regierung aus Angst vor sozialen Unruhen nicht, eine volkswirtschaftlich gebotene Teuerung durchzusetzen. Fast zwei Millionen Dollar hat die NNPC für eine Kampagne bereitgestellt, um die Nigerianer von der Notwendigkeit einer Benzinpreiserhöhung zu überzeugen – vergeblich.

Die öffentlichen Reaktionen zeugten von erbittertem Widerstand: „NNPC braucht dringend zusätzliche Mittel, weil das Defizit die schwindelnde Höhe von 14 Milliarden Naira erreicht hat“, war in der Wochenzeitung Tell zu lesen. In dem Artikel wird die Ursache des Finanzlochs weit eher Prasserei und Mißmanagement als niedrigen Benzinpreisen zugeschrieben: „Eine riesige Quelle der Verschwendung ist die von NNPC gemietete Tankerflotte. Allein im letzten Jahr hat das Unternehmen 2,7 Milliarden Naira dafür ausgegeben, die meisten Verträge sind von mächtigen Einzelpersonen ausgehandelt worden. Schlimmer noch: Den größten Teil der Zeit wurde sie gar nicht genutzt.“

Was in diesen Zeilen etwas verbrämt ausgedrückt wird, formuliert John Adeleke unmißverständlich: „Auf der einen Seite wird der Regierung immer wieder das große Ausmaß an Korruption vorgeworfen, das hier herrscht. Was veranlaßt dann andererseits irgend jemand zu glauben, Einnahmen aus der Benzinpreiserhöhung kämen wirklich der Bevölkerung zugute?“

Jeden Tag werden in Nigeria 1,78 Millionen Barrel Öl gefördert. Theoretisch sollen davon 300.000 Barrel für die einheimische Bevölkerung reserviert werden. Theoretisch: Nach Berechnungen von Experten wird derzeit gerade die Hälfte dieser Menge an die Tankstellen des Landes verteilt. Die Raffinerien verarbeiten höchstens 50 Prozent der Kapazität, für die sie ausgelegt sind, weil die Maschinen veraltet sind und Ersatzteile fehlen. Der Benzinfluß stockt, weil Tankerfahrer und Arbeiter immer wieder für höhere Löhne streiken. Die Anhebung der Gehälter bleibt weit hinter der Inflation zurück. Ein Transportweg allerdings scheint nach wie vor reibungslos zu funktionieren: der Schmuggel des Benzins über die Landesgrenzen hinweg, dorthin, wo daran weit mehr zu verdienen ist. In Benin kostet der Liter Benzin 80 Pfennige, in Mali gar zwei Mark.

So wie bisher kann es nicht weitergehen – darin sind sich alle einig. Aber es geht so weiter: Nachdem die Importsteuern für Fahrzeuge um 80 Prozent gesenkt worden sind, wurden im ersten Quartal 1993 knapp 60 Prozent mehr Autos eingeführt als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Luxuskarossen sind seltener geworden – der Renner in Nigeria sind heute importierte Gebrauchtwagen aus zweiter oder dritter Hand.Foto: Akinbode Akinbiyi