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Kritik der Urteilskraft

Kein Anlaß zu reflexhaftem Lamento: Die Vergabe des Ingeborg-Bachmann-Preises 93  ■ Von Jörg Lau

Es gibt eine eingespielte Folklore des Nörgelns und Grantelns über das Ereignis, das in der Branche kurz und lieblos „Klagenfurt“ genannt wird – den IngeborgBachmann-Wettbewerb, der in der letzten Woche zum 17. Mal ausgefochten wurde. Kaum jemand kommt unbewaffnet in diese Stadt: Wer den Kollegen in der Arena des Fernsehstudios über die Schulter schaut, um ein paar Bonmots abzukupfern, hat allerbeste Chancen, auf vorbereitete Listen von Klagenfurt-Haß-Zitaten zu stoßen, ganz oben die Namenspatronin, die an Uwe Johnson – so ungefähr jedenfalls – schrieb, man müsse ein Fremder sein, um es in der Stadt auch nur ein paar Tage auszuhalten. Mit solchem fabelhaften Einstieg läßt sich dann leicht überleiten auf die Qualität der Texte, die bekanntlich von Jahr zu Jahr immer belangloser, beliebiger, langweiliger und ... [Platz für eigene Einträge] werden.

Wenn die Klagenfurt-Mäkler statt am allgemeinen Kulturverfall, Abt. Gegenwartsliteratur, am Großen, Ganzen und Prinzipiellen jener Veranstaltung ihr Mütchen kühlen, dann wird meist das eigenartige Prozedere angegriffen: Die Juroren befinden sich hier bekanntlich in der schwierigen Lage, die zu beurteilenden Texte ad hoc einschätzen zu müssen, wenn sie unmittelbar nach der Lesung zu Wort gebeten werden.

Das Prinzip scheint aus mindestens einem Grund verteidigenswert: gründlicher als es hier in Klagenfurt geschieht, kann man den Mythos der kritischen Spontaneität nicht demontieren. Was sich zu allererst in der Konfrontation mit unbekannten Texten einstellt, sind nämlich oft ganze Seiten aus dem Wörterbuch der ästhetischen Gemeinplätze. Eine Meinung entsteht erst da, wo dieser ganze Schotter weggeräumt und verarbeitet wird. Das subjektive Urteil ist nichts unmittelbar Gegebenes, sondern eine Konstruktion, die nicht immer und, wie man sieht, überhaupt nicht allzuoft gelingt.

Es macht das Vergnügen des Publikums aus, zu beobachten, wie die Kritiker damit zurechtkommen, daß sie mit der Mehrzahl der Texte nicht gleich zurechtkommen. Diesmal war die Herausforderung durch die Heterogenität des Angebots enorm. Man fand unter den 22 vorgelegten und vorgetragenen Proben Texte mit und ohne große Themen; Texte, die noch einmal die Formspiele der Avantgarde durchdeklinierten; Verständigungstexte im besten Stil der späten siebziger Jahre; spielerische Texte, die auf die Zuschauer im Studio des ORF sanft hinunterregneten wie große bunte Sat.-1- Bälle; wuchernde Textgewächse, deren Wurzelwerk schwer vom Dreck der Geschichte verklumpt war, aber auch essayistische Auflockerungsübungen im leeren Turnraum der Gegenwart. Man fand schließlich auch eine Reihe von Texten, an denen nichts erstaunlicher war als die Jugend ihrer Autoren – freilich mehr im Sinne früher Vergreisung als früher Vollendung. Alles in allem durfte sich aber der weitgereiste Rezensent dieser Veranstaltung bald erleichtert und von der Not befreit fühlen, mangels literarischer Substanz dem eingespielten Genre der Klagenfurt-Glosse noch ein weiteres Exemplar hinzufügen zu müssen. (Was jedoch auch ein wenig schade ist, denn man hätte in diesem Jahr den beliebten Einstieg über das traditionelle Fußballspiel der Kritiker gegen die Autoren mit einem Schuß Zahlenmystik anreichern können; 5:3 war der Ausgang des Spiels, ebenfalls 5:3 siegte der diesjährige Preisträger, Kurt Drawert, über Hanna Johansen im ersten Wahldurchgang – beides Ergebnisse von geradezu überirdischer Gerechtigkeit.)

Aber halt, alles schön der Reihe nach: Bis zu jenem Freitagvormittag, an dem Kurt Drawert seinen nachhaltig irritierenden Vortrag hielt, war schon einiges geschehen, das Erwähnung verdient. Neben Peter Demetz, Verena Auffermann, Volker Hage, Wilfried Schoeller, Klaus Amann, Iso Camartin und Angela Praesent, die schon im letzten Jahr der Jury angehörten, gab es zwei Neue, die auf ihre je eigene Art von sich reden machten – der Kritiker und Essayist Werner Fuld und Maxim Biller, eher als krakeelender Tempo-Kolumnist („Hundert Zeilen Haß“) denn als Schriftsteller („Wenn ich einmal reich und tot bin“) bekannt. Biller, von dem man sich wohl – in Unkenntnis seiner Kolumnen? – eine Verjüngung des Diskussionsstils durch intelligente Provokationen erhofft hatte, erlebte einen fürchterlichen Absturz. Man könnte darüber hinweggehen, wenn dieser Untergang nicht so symptomatisch wäre. Biller war mit der Nötigung, sich sehr schnell auf verschiedene Textsorten einzustellen, offenbar intellektuell überfordert und flüchtete sich in eine, mal mit kindlichem Trotz, mal mit pubertärer Überheblichkeit vorgetragene ästhetische Borniertheit, die seinen Jury-Kollegen nur amüsiertes bzw. peinlich berührtes Lächeln entlockte.

Der „Realismus“, den er den angetretenen Literaten unterschiedslos als Gebot der Stunde anzudienen versuchte, blieb bis zum Schluß eine Chimäre. Biller gab vor, Helmut Kraussers Beitrag „Wege des Brennens. Elektrische Herzen“ für ein gelungenes Beispiel zu halten. Schwer zu glauben. Daß er zu diesem von ihm selbst eingeladenen Autor hielt, obwohl dessen Text so ganz und gar mißlungen war, ehrt Biller zwar, läßt sein Projekt einer neuen realistischen Literatur aber noch diffuser erscheinen.

Krausser mimte in einer entsetzlich peinlichen Vorstellung den großen Macho-Erzähler mit tiefer, langsamer Stimme. Sein Text über eine Jugendclique war allerdings so banal und verkitscht, daß auch eine weniger märchenonkelhafte Vortragsweise nichts hätte retten können. Werner Fuld bemerkte lakonisch dazu, das Wort „Drahtesel“ sei ihm schon seit „Emil und die Detektive“ nicht mehr begegnet. Es war doch sehr bedauerlich, Biller, den vermeintlichen jungen Wilden, als Verteidiger des neuen literarischen Justemilieu erleben zu müssen. Die Veranstaltung hätte manchmal einen Polemiker brauchen können, um jene seltsame Verwandlung der Kritikerrunde in ein fideles Oberseminar zu unterbinden, die man immer dann beobachten konnte, wenn die Autoren mit creative-writing-Pirouetten aufwarteten. Verena Auffermann brachte Billers Pleite genüßlich auf den Punkt: Sie sei erstaunt, hier auf einen so jungen Kritiker mit so alten Kriterien zu stoßen.

Werner Fulds erster Klagenfurter Auftritt hingegen war ein um so größerer Erfolg, als er in seiner Rezension im letzten Jahr der Jury die Konventionalität ihrer Urteile vorgehalten hatte. Nun saß er selber am Richtertisch, mischte sich immer wieder intelligent, knapp – vor allem aber: unberechenbar – in die Diskussion ein, und fand sich am Ende in der Auswahl seiner beiden Kandidaten, Kurt Drawert und Dirk Brauns, bestätigt: der erste gewann den Bachmann-Preis, der zweite bekam für seine Montage aus Bewußtseinsfetzen eines NVA-Panzerfahrers immerhin ein 3Sat-Stipendium.

Drawert las seinen Text „Haus ohne Menschen. Ein Zustand“ – einen manisch um Schmutz, Verfall, Entsorgung, Fäulnis kreisenden Monolog – mit leiser, stotternder, stockender Stimme. Im Fernsehinterview nach der Authentizität dieses Habitus befragt, gab er knapp zu verstehen, es habe sich nicht eigentlich um einen Vortrag gehandelt: „Ich bin der Text.“ Böse Kollegen versuchten, die Kraft der Performance herunterzuspielen; der Ossi als Schmerzensmann – Pfarrer Schorlemmer goes Thomas Bernhard! Wer Drawert nachher flüssig und charmant im Café reden hörte, konnte Zweifel an Werner Fulds Einschätzung seines Favoriten bekommen: „Wir haben in den letzten Tagen viel von Spiel und Simulation zu hören bekommen; das hat hier ein Ende.“ Nein, im Gegenteil: Drawert zeigte sich als begabter szenischer Leser, als Textdarsteller. Das Ich, das in seiner Prosa zu uns oder auch nur so vor sich hin spricht – genau lokalisiert in einer Wohnung an der Berliner Straße in Leipzig –, sagt von sich selber, es sei „ganz ohne Empfindung bei dem Gedanken, daß alles aufgelöst und eingeäschert sein wird, was seine Auflösung und Einäscherung aus sich selbst heraus angerichtet hat“.

Und doch ist seine Rede eine einzige Jeremiade gegen den Dreck, die Isolation, die Entropie; das Kunststück daran ist, daß dieses lange Lamento ganz ohne Larmoyanz daherkommt. Drawerts Blick verwandelt den verrottenden Osten in ein Szenario zwischen Beckett und „Brazil“: “..., und ich selbst sitze ja auch nur auf meinem Drecksessel und überlege, wie ich diese Wohnung auflösen und wohin ich all diesen Warenschund, diese Ausschußwirtschaft, für die sich ganze Generationen die Knochen gebrochen haben, werfen soll, Verfallsmaterie, die nicht einmal mehr die Müllabfuhr entgegennimmt. Die Müllabfuhr, die früher einmal eine ganz passable Truppe zumeist trinkender junger Leute war, kommt heute in orangen Dienstanzügen und sichtet mit kritischem Blick, was ihr als Weggeworfenes entgegenzunehmen als würdig erscheint, und nimmt es mit erhobenem Kopf und spitzen Fingern. Die nicht vollkommen unsympathische Tumbheit dieser Arbeiterschaft ist endgültig dahin [...] drei von vier Gegenständen, die natürlich alle vollkommen unbrauchbar gewordene Drecksgegenstände sind, nehmen einem diese über Nacht aristokratisch gewordenen Proletarier gar nicht mehr ab ...“

Mag sein, daß der allwissende Erzähler passé ist; Hanna Johansens Romanextrakt „Anderes Licht“ enthüllte eine beängstigend vielwissende Erzählerin. Sie überraschte die überwiegend männliche Jury mit einer derart detaillierten Mikropsychologie des Beischlafs aus der Kopfkamera ihres Helden, daß man ihr schon aus Scham, so durchschaut zu werden, einen Preis geben mußte. Die gelegentlich ein wenig beamtenhafte Akribie ihrer Sprache konnte man da mit Recht ignorieren. Hanna Johansen erhielt den Preis des Landes Kärnten.

Die weiteren Preise stellten einen Proporz der Textsorten her, der fast ein bißchen verdächtig ausgewogen erscheinen konnte: Sandra Kelleins Text „Hochformat“ – ein artifizieller Gedankenstrom von hypnotischem Rhythmus über Realitätsverlust und elektronische Einsamkeit – wurde mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet, Jan Peter Bremers minimalistische Groteske „Der kurze Weg“ war den Juroren immerhin ein Bertelsmann-Stipendium wert. Bedauerlich, daß am Ende der Mut fehlte, die Essay-Montage der „Bekenntnisse“ von Dirk von Petersdorff auszuzeichnen, die gerade als luftige Konstruktion das authentische Zeugnis einer Jugend in den achtziger Jahren und ihrer heutigen Orientierungsprobleme lieferte.

Übrigens: auf das Bild mit den Sat.-1-Bällen bin ich leider nicht selber gekommen. Ich habe es von dem Schriftsteller Max Goldt geliehen, den ich für sein neues Buch „Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau“ (Haffmanns Verlag) maßlos bewundere. Darin findet sich eine rätselhaft schöne Traumpassage, die ich all jenen ans Herz legen möchte, denen der Sinn immer noch nach Debatten über literarischen Realismus steht. Ich las sie in Klagenfurt, als ich im „Einbahn-Café“ – in der „Fleischbank-Gasse“ gleich gegenüber einem Haus mit der kryptischen Aufschrift „Realbüro“ – auf ein Wiener Schnitzel wartete: „Ich sagte: Gleich kommt ein Erdbebenfilm im Fernsehen. Darauf riefen die Frauen, daß sie sich, wenn ich den gucke, im Badezimmer verstecken würden. Ich entgegenete: Wieso denn? Ist doch nur Fernsehen! Dann schauten wir aus dem Fenster. Unter uns stürzten Gebäude und Brücken ein. Die Frauen rannten ins Badezimmer und schrien: Komm auch, komm auch! Ich sagte: Wieso denn? Ist doch nur Fenster!

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