Grob fahrlässig

■ Verstrahlte Leiharbeiter in Frankreich: Ein exemplarischer Prozeß

Paris (taz) – Es ist nicht übertrieben: Daniel Leroy sieht aus wie ein Opfer des GAUs von Tschernobyl. Der 27jährige hat alle Haare verloren, seine Arme und Beine sind bandagiert, 60 Prozent seines Körpers sind verbrannt. Sein Leben wurde von seinen Arbeitgebern aufs Spiel gesetzt: Im August 1991 mußte Leroy im Teilchenbeschleuniger einer Kunststoffabrik im lothringischen Sarreguemines Reparaturen ausführen. Weil die Firma Zeit und Geld sparen wollte, war das Gerät nicht völlig abgeschaltet worden, Leroy und zwei weitere Arbeiter wurden schwer verstrahlt.

Gestern wurden die drei Firmenleiter wegen „fahrlässiger Verletzungen“ verurteilt. Geschäftsführer Patrick Muller erhielt zwölf Monate Gefängnis, davon sechs auf Bewährung. Firmenchef Philippe Magnen und sein Verwalter und technischer Berater, Michel Roche, kommen mit Bewährungsstrafen von einem Jahr und sechs Monaten davon. Alle drei müssen zudem lächerliche 6.000 Mark Strafe zahlen. Unter Magnens Leitung darf die Firma weiterarbeiten, sie hat nur den Namen gewechselt.

Trotzdem hatte der Prozeß exemplarischen Charakter, beschäftigte er sich doch erstmals mit der Situation der Leiharbeiter. Die drei Männer hatten wahllos jeden Job angenommen. Die neu gegründete Kunststoff-Firma „Electron Beam Service“ wollte mit ihrem Teilchenbeschleuniger zur Weiterverarbeitung von Teflon schnell Umsatz machen. Da das Gerät nicht als atomare Einrichtung eingestuft wird, ist dafür keine spezielle Genehmigung erforderlich. Die Anmeldung und Regelkontrolle hatte die Firma allerdings unterlassen.

Der völlig unerfahrene Jean- Marc Bies wurde nur zwei Tage eingearbeitet. Unter seiner Leitung mußten Giovanni Nespola und Leroy, die beide als Lagerarbeiter eingestellt waren, grobkörniges Teflon in die Strahlenkammer leiten, wo es zu feinem Pulver verarbeitet wurde. Diese Kammer ist mit 1,8 Meter dicken Betonwänden umgeben, die vor den Strahlen schützen sollen. Um die Kammer zu betreten, muß der Teilchenbeschleuniger abgeschaltet werden, was zu einem längeren Stillstand führt. Als das Förderband, auf dem das Teflon in den Bunker geführt wird, mehrmals bockte, beschlossen die Arbeiter, über den Materialausgang in die Kabine zu steigen. Dabei wurde nur die Strahlenkanone abgeschaltet, die Reststrahlung blieb.

Bies untersuchte den Schaden, Leroy reparierte eine halbe Stunde lang, Nespola half ihm 15 Minuten. Schon am Abend traten die ersten Symptome der Verstrahlung ein: Haare fielen aus, die Haut dunkelte und brach auf. Selbst bei Bies, dessen Verletzungen kaum sichtbar wurden, wurde auf der Haut eine radioaktive Belastung von 500 Rem gemessen — 5 Rem im Jahr ist der Höchstwert, den das Gesetz für Arbeiter in Atomkraftwerken zuläßt. Die Gefahr, daß die drei an Krebs erkranken, ist daher groß.

Große Gesundheitsrisiken gehen Leiharbeiter auch in Atomkraftwerken der „Eléctricité de France“ ein. Eine Forscherin hat festgestellt, daß in französischen AKWs etwa 4.000 Leiharbeiter tätig sind. Sie führen achtzig Prozent der Reparaturarbeiten aus. Aufgrund ihrer Mobilität können sie von den Arbeitsärzten kaum überwacht werden. Im Durchschnitt sind sie einer zehnfach höheren Strahlendosis ausgesetzt als die fest Angestellten. Bettina Kaps