Die Kleinigkeit Von Norbert Naegele

Sommerzeit, Badezeit. Nichts wie raus an den See, ins Freibad, zum Fluß, ist doch klar; eigentlich. Wenn da nicht jedes Jahr aufs neue diese bescheuerte Kleinigkeit wäre.

„Oh mein Gott“, entfuhr es mir jüngst am See, als mich beim Entkleiden wie ein brutaler Faustschlag die Erkenntnis traf, „dann sieht ja jeder diese Fußnägel!“ Jäh hielt ich inne und checkte erst mal die Lage. Der „Strand“ war voll! Lauter schöne sametbraune Körper lagen um uns herum. Schon deshalb mußten wir drei Bleichlinge doch deutlich auffallen. Und ich brauchte wahrlich kein Fernglas, um feststellen zu müssen, daß es im Umkreis von dreißig Metern gewiß nicht einen einzigen ungestylten, dottergelben oder gar häßlich verwachsenen Fußnagel gab. Entmutigt sank ich auf die Decke. Das war nicht mein gutes altes Berlin-Kreuzberg. Hier achtete man noch auf seine Nachbarn. Wie sollte ich unter diesen demütigenden Umständen die Marterschneise ans Wasser, an all den provinziellen Augenpaaren vorbei, je schaffen? Zumal ich ja überdies mit rein garnichts ausgleichen konnte! Weit und breit besaß ich den einzigen Körper, der jederzeit und gänzlich ohne Training die Rolle eines an Anorexia Nervosa leidenden Fakirs im Hungerstreik übernehmen konnte. Ich entkleidete mich dennoch bis auf die Strümpfe und legte mich blitzschnell auf den Bauch. Die Schneise behielt ich natürlich im Blick.

Den ersten Schlag führte mein eigener Sohn. Gerade hatte ich den Plan verworfen, mich handstreichartig seiner Flossen zu bemächtigen, um ans Wasser zu gelangen, als er die Anwesenden mit der schier unglaublichen Macht seines Stimmorgans überraschte: „Papa, warum läßt du denn die Strümpfe an?“ Noch während ich vor Scham immer tiefer im Boden versank, entging mir dennoch nicht, wie sich die Köpfe der Umliegenden nacheinander erhoben. Aus den Augenwinkeln glaubte ich zudem deutlich unkontrollierte Zuckungen um ihre Mundwinkel erkennen zu können. Ja ich spürte förmlich wie sich ihre gierigen Augen und Ohren auf uns ausrichteten wie die Rachen gefräßiger Haie auf der Blutfährte. Mit dem Mut der Verzweiflung drehte ich mich lässig um und streifte die Dinger ab. „Iiiiihhh“ heulte der kleine Plagegeist und wich auch noch theatralisch ein Stück zurück. „Nicht so laut“, zischte ich und versuchte, den Blick des Mißratenen mit gnadenlos strengen Augen zu fangen und zu bannen. Doch er wich mir aus, sah und zeigte konsequent auf meinen rechten Fuß.

Der zweite Hieb kam dann eigentlich von meiner Frau. Denn daß der Kleine nun kaum mehr gestoppt werden konnte, war klar. Schließlich wußte er, wie sehr ich dergleichen haßte. Doch anstatt ihn zurechtzuweisen und hart zu bestrafen als er donnerte: „Wie die Füße so die Seele, gell Paps?“, stimmte sie in sein anschließendes blödes Gewieher auch noch mit ein. Sie ließen mir keine Wahl, nötigten mich, einen Lachkrampf zu mimen, weil man ja sonst gleich überall als Spielverderber so bekannt ist wie ein bunter Hund mit verwachsenen Fußnägeln. Und noch während ich meine Zähne also fröhlich bleckte, schwor ich, fürchterlich Rache zu nehmen. Und irgendwie diese Kleinigkeit verschwinden zu lassen.