Zartbitterstes

Ist es versuchte Nähe, ist es „Abwehrzauber?“ Warum nur lieben alle den Kitsch W. G. Sebalds?  ■ Von Sibylle Cramer

Die reiche Welt der Bücher hat ein paar natürliche Eigenschaften ausgebildet, darunter die der Undurchdringlichkeit. Wo die Übersicht fehlt, verwandelt sich der Mensch in einen phantasievollen Pfadfinder.

Längst ist die sichtende und richtende Literaturkritik auch eine dichtende Literaturkritik. Längst gehören Erfindungen zu den festen Einrichtungen des literarischen Lebens, namentlich die Ausrufung von Entdeckungen, deren Gegenstand sich bei Annäherung in Luft auflöst. Zum Beispiel W.G. Sebald, als Essayist bekannt, jetzt dichtet er auch. Hans Magnus Enzensberger hat in seiner Anderen Bibliothek zwei Titel von Sebald herausgebracht. Den zweiten, nämlich „Die Ausgewanderten“, schlug er jetzt gar für den Europäischen Literaturpreis vor.

Die Kritiker waren einstimmig hingerissen und beteiligten sich an dem Auf- und Ausbau des Erzählers Sebald zu einer Hoffnung der Literatur. Sie feierten ein Meisterwerk über die wirklichen Schicksale und das abgründige Unglück Ausgewanderter. Des Erzählers bedächtige Sorgsamkeit, die hochpoetische Akribie seiner Beschreibungen, das Umständliche und Altfränkische seines Tons, das seiner Sprache Wärme gibt, seine Kultiviertheit und Eleganz angesichts des abgründigen Unglücks, die kompromißlose Altmeisterlichkeit und Gediegenheit im Umgang mit dem Tragischen, die eigentümlich melancholische Grundmelodie seines Schreibens und die Verdammung des heutigen Weltzustands in leiser Tonlage wären demnach das Kennzeichen der Kunst Sebalds. Noch einmal große Literatur für erbärmlich kleine Zeiten. Noch einmal Schicksale in ihrer Nicht-Deutbarkeit.

Ich beschaffte mir das Buch und machte die Bekanntschaft mit einem Autor, der seine Erzähler im geliehenen Frack, in alpenländischer Tracht oder im romantischen Rock losschickt, ausgestattet mit Sprachmanieren aus der Zeit der großbürgerlichen Syntax. Sie reden wie die Studienräte in Thomas Manns Romanen, ohne zu merken, daß sie Parodisten sind. Die Welt verschwindet in einer Wolke aus Wehmut und mit ihr das Unglück, von dem Sebald erzählt. Seine Figuren sind nämlich allesamt Juden oder haben jüdische Vorfahren. Sebald erzählt von der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden so, daß der Leser es nicht merkt.

Alle vier Geschichten des Buchs präparieren die Katastrophe dieses Jahrhunderts zu einer zartbitteren Genußsache. Noch einmal wird das Märchen wahr vom Aufstieg des Tellerwäschers in die High-Society Amerikas und vom Einzug des armen Jungen aus Whitechapel in Prior's Gate. Sebald erzählt von dem heimatvertriebenen kleinen Waisenjungen, der ein großer Maler wird. Er verwandelt die Welt selbst dort ins Wunderbare, wo sie aus Schulbänken besteht, in der Geschichte des Dorfschullehrers Paul Bereyter, der in Wahrheit ein verzaubernder Poet des Unterrichtsfaches ist. Der Stoff wird systematisch entwirklicht.

Die Märchenstruktur der Geschichten, die Verwandlung des jüdischen Themas in Sagenkreise, der Ausschluß vergegenwärtigenden Erzählens, die Verdoppelung und Vervielfachung der Fiktion, der kostbare Erzählton, der die Texte mit einer Schicht schöner Gefühle überzieht, das Prinzip, vieles statt viel zu erzählen, die Vereinfachung der moralischen Grundrisse, die Stereotypien der Figuren und der Ersatz pschologischer Durchdringung durch das äußerliche Attribut, das alles sind Elemente einer kitschigen Historisierung des Stoffes.

„Abwehrzauber“. Einer der Rezensenten plazierte den Begriff als Lob. Als Abwehrleistung bezeichnen die Psychologen Seelenarbeit, die Unlustgefühle verhindert. In Sebalds Fall assistiert es bei der Bewältigung von Stoffen, die in Wahrheit nicht zu bewältigen sind. Deutlich, will mir scheinen, spielen bei der Aufnahme seiner Geschichten die Entlastungsfunktionen des Trivialen eine Rolle angesichts eines Themas, das uns Deutschen, wenn es mit uns gutgehen sollte, für alle Zeiten die Leichtigkeit des geschichtlichen Bewußtseins nehmen wird.

Vergoldet, einbalsamiert, begraben und in schwelgerische Nostalgie verwandelt wird das Thema „Juden und Deutsche“. Theresienstadt, Auschwitz entrücken in abgeschlossene Vorzeiten. An die Stelle einer lebendigen, in die Gegenwart wirkenden Vergangenheit rückt eine in doppeltem Sinn reine Nachzeit. Sebald spricht von „Trauerlaufbahnen“. Die Trauer ist jedoch ein tätiges Gefühl, eine Arbeiterin, die ohne ihr Material nicht zu denken ist. Sebalds Figuren geben sich einer Melancholie hin, deren Gegenstände verschwunden sind.

Wir haben uns in Frieden getrennt, das Buch und ich. Ich habe es ausgesetzt. Jetzt steht es im Kaufhaus, zwischen Marion Holt, Alexandre Dumas, Daphne du Maurier und Karl May. Sebalds Legationsräte, Milliardärssöhne, Schloßbesitzer, Hummeresser und Cellospieler treiben sich irgendwo herum zwischen dem ChÛteu d'If und Schloß Rodriganda, mit Edmond Dantès, dem Fürsten Befour und deren Robinsonaden, Märchen und Melodramen, die allesamt dem erzählerischen Hubgesetz Karl Mays folgen: aus der Tiefe zur Höhe, vom niederen Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor.

W. G. Sebald: „Die Ausgewanderten“. Erzählungen. Eichborn Verlag 1992, 258 Seiten, gebunden, 38 Mark