Die Angst einer „befreiten“ Stadt

Sizilien seit der Verhaftung der Mafia-Bosse und dem Beginn der massiven Polizeipräsenz in den Städten: Die Menschen genießen die neue Sicherheit – aber sie trauen dem Frieden nicht  ■ Aus Palermo Werner Raith

Wer nach längerer Abwesenheit nach Palermo oder Agrigent, Gela oder Catania zurückkehrt – Städte, die noch immer aussehen wie vor einigen Jahren –, findet dort seit neuestem eine Atmosphäre vor, wie man sie nie zu erträumen wagte: Frauen lassen ihre Handtaschen wieder sorglos am Handgelenk baumeln, ohne daß im nächsten Moment ein Scippatore, einer der berüchtigten motorisierten Straßenräuber, vorbeibraust und sie wegreißt; Koffer und Tragetüten werden von ihren Besitzern schon mal kurz aus den Augen gelassen, ohne daß sie gleich verschwinden. Nachts sind die Straßen wieder belebt. In den Bars sitzen Männer, vor denen man nicht nur das Wort „Mafia“ – einst völlig tabu – aussprechen, sondern mit denen auch über die Onorata societa, die ehrenwerte Gesellschaft, diskutieren kann.

Kleine Nester wie Villalba, einst Hochburg des Oberbosses Don Calogero Vizzini, lassen Fernsehteams oder Reporter ungehindert und unbedroht mit dem dort wunderbarerweise immer noch lebenden allerersten Anti-Mafia-Schriftsteller Michele Pantaleone sprechen: als sei die gesamte Insel unvermittelt aus der Hölle ins Paradies geraten.

Womit derlei erzielt wurde, scheint auf den ersten Blick klar: An jeder Straßenecke, oft auf hundert Meter vier- oder fünfmal, sieht man Soldaten, meist mit Panzerweste oder hinter Sicherheitsglas. Polizeifahrzeuge patrouillieren allenthalben. Die „Besetzung des Territoriums“ durch den Staat scheint diesmal geklappt zu haben: Vor gut zehn Jahren hatte sie der damals entsandte Anti-Mafia-Präfekt Carlo Alberto Dalla Chiesa als wichtigsten Schritt zur „Normalisierung“ in den Mafia-Hochburgen bezeichnet. Aus Mangel an genehmigten Mitteln konnte er sie seinerzeit aber nicht durchführen– was ihn kurz nach seiner Ernennung das Leben kostete.

Doch – wie so oft in Sizilien – trügt der erste Blick. Sicher hat der Ernst, den der Staat nach den Morden an den Mafia-Oberfahndern Falcone und Borsellino im vorigen Jahr notgedrungen zeigte, kräftig zum Klimaumschwung auf der Insel beigetragen. Aber schon vorher hatte sich unterschwellig ein Ambiente gebildet, das der Cosa nostra – wie der militärisch-formal organisierte Teil der Mafia heißt – äußerst abträglich war. Das lag weniger am entschiedeneren Auftretens von allerlei Mafia-Gegnern als an internen Widersprüchen der organisierten Kriminalität selbst.

Nicht weniger als drei massive Mafia-Kriege haben Sizilien seit den 70er Jahren erschüttert, mehr als dreitausend Tote blieben auf der Strecke. Die Opfer waren immer weniger Mitglieder rivalisierender Clans, Polizisten oder Staatsanwälte – immer häufiger traf es auch Menschen, die weder mit der Mafia noch mit dem Anti- Mafia-Kampf zu tun hatten. Manche wurden einfach so niedergemäht, weil irgendein Clan wieder mal beweisen mußte, daß er töten kann, wo und wann er will.

Vorbei die Zeiten, in denen jeder Straßenbewohner wußte, wer in seinem Viertel Boß ist und an wen man sich bei einer Geschäftseröffnung oder im Falle zahlungsunwilliger Kunden wenden muß: immer öfter machten sich rivalisierende Gruppen ganze Dörfer und Stadtteile streitig, die Schutzgeldzahlung bot längst nicht mehr den– einst wirklichen – Schutz vor „Unwägbarkeiten“ wie Abfackelung des Geschäftes oder Explosion der Baumaschinen. Man zahlte, doch drei Tage danach erschien die gegnerische Bande und wollte ebenfalls erpressen. Anfangs wurden derlei Quereinsteiger von den Alteingesessenen einfach umgebracht, dann wurden es immer mehr, die es doch einmal versuchten. Vom Osten und Süden der Insel breiteten sich „autonome“ Mafia-Banden aus, die außerhalb der Cosa nostra standen, aber um nichts weniger geldgierig und blutrünstig waren: die sogenannten Stiddari (Sternenträger, nach einem tätowierten Muster auf der Hand).

Gangster verdarben der Mafia das Geschäft

Sie boten der zwar gut organisierten, zahlenmäßig jedoch – aus Zusammenhaltsgründen – bewußt eng umgrenzten Cosa nostra durch rein zahlenmäßige Überlegenheit Paroli. Währen ein Cosa-nostra- Clan („Familie“) üblicherweise allenfalls ein paar Dutzend echte, dauerhafte Mitglieder zählt, bringen es einige Stiddari-Gruppen schon mal auf fünf- bis sechshundert schießbereite Burschen. Die halten zwar nicht auf Dauer zusammen und entsprechen in ihrem Denken und Verhalten auch eher dem Stadtgangstertum der neapolitanischen Camorra denn der gesellschaftlich verwurzelten Mafia. Weil sie aber viele waren, konnten sie ganze Mafia-Familien ausrotten. Für die Sizilianer bedeutete das eine tiefgreifende Wende: Hatte man sich bis in die 80er Jahre mit dem Phänomen „Mafia“ zumindest arrangieren können, indem man den Pizzo („Schutz“geld) zahlte, so gelang das nun immer weniger. Viele Geschäftsleute mußten schließen oder lebten fortan am untersten Rand des Existenzminimums. Viele verkauften ihr Geschäft – zu Schleuderpreisen – an die Blutsauger selbst.

Daraus aber ergab sich im Laufe der Zeit eine Situation, die die Mafia selbst wohl nicht bedacht hatte: Immer mehr Geschäfte gingen aus den Händen ehrbarer Bürger in die krimineller Bosse oder gar Banden über – und damit versiegte die erpreßbare Quelle. Wer da noch zum Schutzgeld-Eintreiben kam, fand sich schneller unter der Erde, als er „Entschuldigung“ sagen konnte. Viele der – mittlerweile auf mehr als 300 angewachsenen – Aussteiger (Pentiti) geben als eines der wichtigsten Motive für ihren Seitenwechsel an, daß man sich längst nicht mehr auskennt, wer wo herrscht und mit welchen Mitteln man noch überleben kann. So erklärte der Mann, der den Boß aller Bosse, Salvatore „Toto“ Riina, am Ende verriet, der Polizei seine Hilfsbereitschaft so: „Meine Eltern sind wenige Sekunden bevor Riina und Genossen den Untersuchungsrichter Falcone in die Luft gesprengt haben an der Stelle vorbeigefahren – es hätte auch sie treffen können, und niemand hatte uns gewarnt.“

Vorbei also auch die Zeiten, in denen die Cupola, das oberste Leitorgan der Mafia, ihre Mitglieder rechtzeitig vor hochrangigen Morden warnte, um Sicherheitsvorkehrungen und die Beschaffung von Alibis zu gestatten: Aus Angst vor Infiltration haben die seit zehn Jahren vorherrschenden „Corleonesier“ (der Clan um die aus Corleone stammenden Bosse Liggio, Riina, Provenzano) die Kommunikation mit anderen Gruppen auf ein Minimum reduziert und trauen nicht einmal mehr ihren engsten Mitarbeitern.

In diesem Klima ist der Drang nach Befreiung von der Piovra, der Krankheit, entstanden. Die Morde an Falcone und Borsellino, spektakulär durch die immense Menge des verwendeten Sprengstoffes, sind in diesem Licht eher als letzter Verzweiflungsschritt der Cosa nostra zu deuten – die wie eine zum Sturz fällige Diktatur noch einmal all ihre Bataillone aufbringt, um die Wende zurück zur Herrschaft zu schaffen. Doch der Zerfall kam von innen heraus. Und er kam machtvoll wie einst der Aufstieg der Organisation, die sich mit mehreren Modernisierungsschritten von einer lokalen Form organisierter Kriminalität zum Weltkonzern des Verbrechens wandelte.

Dennoch spürt man in Palermo, daß die Menschen die neugewonnene alltägliche Sicherheit zwar genießen, ihr zugleich aber nicht trauen. Nicht umsonst warnen der Vorsitzende der parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission, Luciano Violante, ebenso wie Innenminister Nicola Mancino vor einer zunehmenden Nachlässigkeit im Kampf gegen die Mafia. Die Cosa nostra, so auch Italiens bekanntester Mafia-Experte Pino Arlacchi, habe „schließlich schon des öfteren mit dem Rücken zur Wand gestanden, wurde Anfang der sechziger Jahre nach einer Reihe repressiver Maßnahmen seitens des Staates sogar regelrecht aufgelöst – doch sie hat eine geradezu unvorstellbare Fähigkeit, in Krisenzeiten wegzutauchen und sich immer wieder neu zu organisieren“.

Das scheinen auch die Palermitaner zu fürchten. Schon laufen Gerüchte um, die Mafia habe sich noch enger an die schon früher mit ihnen kungelnden Geheimbünde nach Art der Loge „Propaganda 2“ sowie an Geheimdienst-Seilschaften und rechtsterroristische Gruppen angeschlossen. Mit wem immer man spricht – der Satz eines Gymnasiasten bei der Vorstellung des letzten Berichtes der Anti-Mafia-Kommission drückt die Stimmung aller aus: „Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn unsere Stadt wieder lebenswert würde. Doch wahrscheinlich ist auch dieses Frühlingsgefühl, dieses tiefe Durchatmen, von der Mafia und ihren Alliierten gewollt, um uns wieder hinreichend zu mästen, damit sie uns wieder ausbeuten und ihre Hände über die Stadt legen können.“