Sozialpolitik: Der letzte zahlt die Zeche

■ Waigels Sparpaket kostet Land Berlin 800 Millionen Mark

Als Sozialsenatorin Ingrid Stahmer am Wochenende den Bericht aus Bonn vernahm, platzte ihr der Kragen. „Eine Unverschämtheit“ seien die Daten und Fakten, die sie und ihre Mitarbeiter von Bundesfinanzminister Theo Waigel erhalten haben. Dieser hatte am Freitag sein Sparpaket von 21 Milliarden Mark als Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts gefeiert. Stahmer sah am Montag darin jedoch vielmehr eine „Konsolidierung der Armut“. Die Senatorin hatte die nackten Zahlen auf ihre sozialen Konsequenzen hin durchleuchtet und war zu alarmierenden Ergebnissen gekommen. So wird sich nach ihrer Einschätzung die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Berlin von derzeit 150.000 auf 208.000 erhöhen, wenn, wie von Waigel beabsichtigt, 1994 die Dauer der Arbeitslosenhilfe-Zahlung auf zwei Jahre begrenzt wird. Die 3 Milliarden Mark jährlich, die im Landeshaushalt dafür vorgesehen sind, müßten dann um 710 Millionen Mark aufgestockt werden. Bei 756.000 Empfängern von Arbeitslosenhilfe bundesweit müßten die Gemeinden 8,3 Milliarden Mark zusätzlich aufbringen.

Diese Zahlen werden sich noch erhöhen, wenn eine zweite Maßnahme des Sparpaketes wirksam wird. Waigel will Arbeitslosengeld und -hilfe im kommenden Jahr um vier Prozent kürzen – mit gravierenden Auswirkungen vor allem in den östlichen Bundesländern. Schon jetzt beträgt dort das durchschnittliche Arbeitslosengeld lediglich 884 Mark (Im Westen 1.362 Mark) während der Hilfesatz bei 712 Mark (997 Mark) liegt. Deshalb würden bereits heute viele besser stehen, wenn sie statt zum Arbeitsamt zum Sozialamt gingen. Denn neben dem Sozialhilferegelsatz von 519 Mark werden dort auch die Mietkosten übernommen. Fallen die Lohnersatzleistungen um vier Prozent, wird dadurch nach Stahmers Ansicht der unfreiwillige Trend zum Sozialamt angeheizt. Die Mehrkosten für den Berliner Haushalt würden nochmals 150 Millionen Mark betragen. Bundesweit rechnet die Sozialsenatorin mit einem Betrag von über 10 Milliarden Mark, der durch diese beiden Maßnahmen vom für die Lohnersatzleistungen zuständigen Bundesetat auf die für die Sozialhilfe zuständigen Gemeindehaushalte verlagert wird.

Da die Gemeinden eine solche Mehrbelastung nicht verkraften, geht Stahmer davon aus, daß auch CDU-regierte Bundesländer Waigels Sparpaket ablehnen. Allerdings müssen die Veränderungen der Lohnersatzleistungen nicht vom Bundesrat mitbeschlossen werden. Dieser kann sie lediglich mit einem Zweidrittelquorum verwerfen. Dann müßte der Bundestag wiederum mit der gleichen Mehrheit, das heißt mit Stimmen der SPD, die Änderungsgesetze beschließen. Stahmer ist sich sicher, daß die Kürzung der Lohnersatzleistungen „mit den SPD-Ländern nicht zu machen ist“. Sollte das erforderliche Sperr-Quorum im Bundesrat jedoch an den CDU- regierten Ländern scheitern, müßte das Länderorgan, weil mitentscheidungspflichtig, mit einfacher Mehrheit über die Höhe der Sozialhilfesätze befinden. Aufgrund des Druckes der Gemeinden, so Waigels Kalkül, werden dann auch SPD-regierte Länder einer Senkung zustimmen. Auch der Senat weiß nicht, wie er gegenbenenfalls die 860 Millionen Mark aufbringen kann. Nichtsdestotrotz geht Stahmer davon aus, daß diese „Beschädigung des Sozialstaates“ zu verhindern ist. Dieter Rulff