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Highway to Weimar

Vom Fragment zur Travestie. Variationen von Faust und Urfaust auf dem Kunstfest in Weimar, das mehr sein will als ein Endlager seiner selbst. Sommerliches Kunstfest statt Stadtoper für „die weniger bemittelten Claßen“?  ■ Von Jürgen Berger

Kurz vor den Toren der Stadt wird die Autobahn dreispurig ausgebaut. Künftig wird der Verkehr hier breiter fließen, im Zuge des „Aufschwung Ost“, wie ein großes Schild verkündet. „Highway to Weimar“ könnte das Motto lauten, denn in die Stadt fließt schon jetzt Geld, wie man sich das andernorts nur wünschen kann. Warum das so ist, wird spätestens vor dem Nationaltheater klar, denn dort stehen sie – überlebensgroß. Und auch in den Schaufenstern der Stadt sind sie allgegenwärtig, was einem Neuweimarianer, der seit kurzem hier sein Geld verdient, den Kommentar entlockt: „Schiller und Goethe bis zum Kotzen“.

Sie lasten auf Weimar, obwohl es in der thüringischen Klassikermetropole so ganz am Rande auch noch um Namen wie Nietzsche und Lenz, Liszt und Bach geht, um nur einige zu nennen. Dem Kunstfest, das dieses Jahr über den Sommer hinweg bis Ende August zum ersten Mal unter dem neuen Intendanten Bernd Kauffmann und mit neuem Konzept veranstaltet wird, dürften also die thematischen Bezüge nicht ausgehen. Alles läuft auf das Jahr 1999 zu, das Welt- Goethe-Jahr, in dem Weimar auch Kulturstadt Europas sein will. Im Moment allerdings geht es noch um den Neuanfang, und was könnte näher liegen als Goethes Faust?

Ein Aufbruch im Zeichen der Tradition, allem Anschein nach, aber auch ein Versuch, den klassischen Stoff zu entstauben. Nur so ist Bernd Kauffmanns konzeptionelle Überlegung zu verstehen, Weimars entscheidender Faktor sei die Vergangenheit. Das Kunstfest aber müsse für Auseinandersetzung sorgen, und zwar auch mit Buchenwald, das ebenfalls zur Geschichte der Stadt gehöre. „Das Kunstfest wird sich auf Dauer nur dann legitimieren können“, so Kauffmann, „wenn es dagegen antritt, daß Weimar ein Endlager seiner selbst ist.“

So wurden sie also „entlagert“, die drei Eckpfeiler des diesjährigen Programms, der „Urfaust“, die „Faust-Variationen“ und „Faust, eine Travestie“, Annäherungen von seiten des Balletts, der Oper und des Schauspiels. Die „Variationen“ als Tanz von Bjart-Eleven aus seiner „rudra“-Schule in Lausanne, die „Travestie“ als Oper des italienischen Komponisten Luca Lombardi – und im Zentrum Manfred Karges Inszenierung des „Urfaust“, jenes noch nicht klassisch gemäßigte Frühwerk Goethes, das, obwohl fragmentarisch, von vielen als theaterwirksamer angesehen wird als der spätere „Faust I“.

In Weimar wartete man gespannt auf die Inszenierung des Kunst-Regisseurs, der in den nächsten Jahren auch Faust I und II erarbeiten und alles zusammen 1999 zeigen will. Für Bernd Kauffmann war dieses Projekt der erste Testfall, nicht zuletzt, weil sich auch zeigen mußte, wie sich das Wahrzeichen des Kunstfestes bewähren würde – ein schwarzer Theaterkubus mit kühnem Bühnenvorbau, der zerlegbar ist und wandern soll, nach Lausanne auf jeden Fall, nach Paris vielleicht.

Daß Karges „Urfaust“ karg sei, kann man nicht sagen, aber direkt ist er. Schon in Goethes erstem Entwurf fehlt Gott sei Dank ein großer Teil der mythischen Aufladungen, wodurch die Gretchen- Faust-Geschichte breiteren Raum gewinnt. Karge hat den Text noch einmal entrümpelt und bietet die Geschichte pur und im Schnellschnittverfahren – als hätte Goethe einen Woyzeck geschrieben. Thomas Thieme ist der Mephisto, ein Spieler in der Version des satten Genießers. Einer, der alles schon einmal durchgekaut zu haben scheint und der auch zu gut weiß, daß er Verse zu sprechen hat, die einmal klassisch werden sollen. Es ist ein seltenes Vergnügen, wie Thieme distanziert mit ihnen jongliert, sie auch schon einmal kurz herunterleiert oder in rhythmischem Sprechgesang skandiert, wenn Karge sie gar brechtisch gegen den Strich bürstet. Sieht er Grete, kommt Leben in den Bonvivant – in einer früheren Inszenierung war Thieme Karges Baal, jetzt könnte man ihn für einen weltläufigen und etwas heruntergekommen Puntilla halten.

Und Faust? Nach einem kurzen „Habe nun ach ...“ verwandelt er sich in ein ungeduldiges Bürschchen, das den genießerischen Satanas ins Schwitzen bringt. Bei Karge ist der ehrwürdige Doktor Faustus ein noch nicht den Kinderschuhen Entwachsener, einer, der sich aber immer geschmeidiger in Herrschaftsposen einübt. Martin Brambach kann zwar deutlich machen, daß da ein Jüngelchen gerne so abgebrüht wäre wie sein mephistophelischer Lehrmeister, leider aber in Attitüden stecken bleibt. Wenn man ihm zusieht, hat man allerdings immer das Gefühl, man würde den Faust gerne zu fassen bekommen, landet aber doch bei den anderen Figuren – bei Grete etwa, die von der jungen Chris Pichler auf die wohl einzig mögliche Art gespielt wird: ohne Schnörkel. Wenn sie den Schlaftrunk für die Mutter mischt, geschieht das zwangsläufig und als wüßte sie, daß sie in diesem Moment zur Henkerin wird. Chris Pichler ist von Karge so inszeniert, daß sie allmählich zum Zentrum wird, in dem sich ein kleines Drama der menschlichen Unheilsgeschichte ereignet, so wie diese Dramen sich eben ereignen – eher unspektakulär.

War Karges „Urfaust“ ein alles in allem gelungener Kurzlehrgang in Sachen Faust – als habe er dem Weimarianer Publikum zeigen wollen, „Seht her, das ist er und nicht mehr“ –, konnte man zuvor in der Oper den Versuch einer klassisch angehauchten West-Side- Story goutieren – oder auch nicht. Musikalisch zitiert Lombardi von Mozart bis Mahler, von Bizet bis zu den atonalen Ausläufern, wodurch er Goethes schwere Geschichte wie ein Kaleidoskop aufblättert, ohne allerdings jemals in Travestie-Regionen vorzustoßen. Der in sich gefangene Faust wird in einem Zeitsprung zum draufgängerischen Rocker, wild brünstig auf Gretchens Fährte, in der auch musikalisch einprägsamen Passage in Gretchens Zimmer, singt Yvonn Füssel-Harris so beeindruckend, daß man gerne vorbehaltlos der Sängerin und dem Mädchen zwischen Zagen und Wagen lauschen würde.

Aber da ist noch Edoardo Saquinetis Libretto, und der hat tatsächlich Passagen wie „Meine Ruh ist hin ...“ im Zusammenspiel mit seinem Übersetzer derart verklemmt modernisiert, das man es kaum wiederzugeben wagt. Sei's drum: „Mein Frieden ist verschollen, mein Herz ist mir geschwollen“ hat die arme Füssel-Harris tatsächlich zu singen, und so kommt's häufiger in dieser Oper, bei der man eigentlich nur der Musik zuhören möchte.

Völlig anders und vor allem verspielter die rudra-Eleven, die dem urdeutschen Faust unter anderem mit dem japanischen „Kendo“- Schwert zu Leibe rücken und in Auerbachs Keller mit Tango-Variationen aufwarten. Bjarts Schüler werden in allen Sparten ausgebildet, genießen also auch Schauspielunterricht, und schaffen es tatsächlich fast durchweg, schauspielerische Einlagen so leicht zu präsentieren, wie man das bei Tänzern selten sieht – etwa wenn einer die Rezeptionsgeschichte abklopft und verwundert innehält: Warum eigentlich hat Fellini nie einen Faustfilm gedreht? Faust und Mephisto werden von mehreren Tänzern getanzt, einziger Einwand: Faust ist den Eleven zum Leidenden in diesem Jammertal geraten, während Mephisto zu eindeutig als glatter Schurke daherkommt.

Nichtsdestotrotz, die Tänzerinnen und Tänzer wurden im ausverkauften Nationaltheater derart begeistert gefeiert, daß jegliche Frage nach der Legitimation des Kunstfestes inmitten des realen Abschwungs Ost absurd erschien – eine Frage, die sich jedoch spätestens vor der „Urfaust“-Premiere wieder stellte. Denn dort hatten sich im Innenhof des Schlosses, wo auch der Kubus steht, Tänzerinnen des Weimarer Balletts eingefunden, um gegen eine mögliche Schließung ihrer Sparte zu demonstrieren. Den ersten wurde, wie sie sagen, schon gekündigt, ihre Befürchtung: Mit der Verpflichtung des neuen Intendanten Günter Beelitz könnte auch die Entscheidung gefallen sein, Oper und Ballett wegzurationalisieren, künftig nur noch Schauspiel zu bieten, während in den Sommermonaten das Kunstfest aufwartet.

Nun besteht kein Zweifel, daß sich in den neuen Bundesländern nicht jede Bühne und jede Sparte wird halten können. Und mit dem Kunstfestbudget, das Bernd Kauffmann zufolge 2,3 Millionen betragen soll, wird an anderer Stelle kaum etwas bewegt werden können. Trotzdem: Hat das Kunstfest nicht den merkwürdigen Beigeschmack eines Vorzeigeprojektes? Und reiht es sich nicht in die Reihe der Festivals ein, die zunehmend als kostengünstigere Konkurrenz zum altehrwürdigen deutschen Stadttheaterbetrieb auftreten? „Ich würde eher sagen, daß wir etwas Markantes auf die Beine stellen wollen, und daß das auch deshalb wichtig ist, weil die Kultur in den neuen Bundesländern von den Medien so dargestellt wird, als würde hier lediglich ein B-Picture laufen“, hält Kauffmann dagegen, der die niedersächsischen „Theaterformen“ leitete und jetzt in Weimar nicht nur neuer Intendant des Kunstfestes, sondern auch Präsident der Stiftung Weimarer Klassik ist. Er will hier auch ein Diskussionsforum schaffen, „Weltbürgertum und Nationalismus“ war der Titel des ersten zweitägigen Podiums mit Teilnehmern wie Arne Ruth, Chefredakteur der schwedischen Dagens Nyheter, der Italienierin Maria Gezzetti, einer freien Publizistin, die derzeit in Hamburg lebt, sowie Peter Sloterdijk, Alain Finkielkraut als Referenten. Michel Korinmann brachte das Publikum mit seiner Kenntnis der deutschen Presse zum Staunen. Er belegte die Diskrepanz zwischen der inoffziellen und der offiziellen Polen-Politik der CDU.

Das Ganze fand im Cinema statt, einem ehemaligen Kinoraum und jetzigem Spielort des „Kunstfestes“, in dem abends dann „Nietzsche oder das deutsche Elend“ geboten wurde. Leider konnte auch Joachim Bliese als knitziger Nietzsche nicht darüber hinwegtäuschen, daß Alexander Widners Text überall hingehört, nur nicht auf die Bühne. Eines zumindest blieb hängen: Auch Nietzsche war, glaubt man Widner, dem Rotwein reichlich zugeneigt – eine Vorliebe, die er wohl nicht nur mit Schiller teilte, der noch kurz vor seinem Tod penibel Buch über seinen Weinkonsum führte. 420 Liter brauchte er pro Jahr. Damals hatte er gerade eigene vier Wände in Weimar bezogen und in einem Brief geschrieben, alles sei so außerordentlich teuer, „daß die weniger bemittelten Claßen nur mit Mühe ihr Leben durchbringen.“

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