„Ich hätte auch nicht mehr weinen können“

■ Der Feuerwehrmann Walter Wullenweber erinnert sich an die Hamburger Bombennächte    Von Torsten Schubert

„Die ganze Luft bewegte sich von diesen 1000 Bombern.“ Walter Wullenweber erinnert sich an die alliierten Bombenangriffe auf Hamburg im Juli 1943. Er ahmt das Dröhnen der Flugzeuge nach. Mit ausgestreckten Armen deutet er das Zittern der Stadt an. Der inzwischen 89jährige gelernte Tischler war damals Zugführer bei der Feuerwehr, stationiert in der Altonaer Feuerwache Mörkenstraße, von wo aus heute noch Löschzüge zu Einsätzen ausrücken.

Viele Erinnerungen an den Feuersturm und die Brandbomben sind in ihm noch lebendig. Manchmal, so sagt er, träume er noch davon. Alpträume. „Die Luftwirbel der Feuerhurrikans haben große Bäume aus der Erde gerissen und sie durch die Straßen geschleudert.“ Kinder seien durch die Luft geflogen, die Kleidung sei den Menschen „auf der Haut“ verbrannt.

Walter Wullenweber hat seine Beobachtungen auf weißes Briefpapier geschrieben. Notizen, die dem alten Mann manchmal scheue Tränen in die Augen treiben. Dann setzt er schnell seine Brille auf. Er ordnet seine Gedanken. Alles begann für ihn ein paar Tage vor dem Angriff, der unter dem Decknamen „Gomorra“ die Generalprobe für die Zerstörung deutscher Großstädte war. Die Feuerwehren wurden am Millerntor in einer Tiefgarage zusammengezogen.

„Plötzlich kamen fünf britische Bomber im Tiefflug auf den Bunker am Heiligengeistfeld zu.“ Die wollen die Flak zerstören, dachte Walter Wullenweber sofort. Er sah zu, wie die fünf Bomber abgeschossen wurden. „Dieser Angriff war ein Irrsinn.“ Nach wenigen Minuten hingen sieben Fallschirme am Himmel, ein Flugzeug kreiste mit nur einem Flügel wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht, über dem Bunker. „Ich habe gedacht: Hoffentlich trifft mich das bald“, sagt Walter Wullenweber. Er hatte den Krieg satt.

Eine schwarzweiße Photographie zeigt Walter Wullenweber damals: Ein kräftiger, gutaussehender Mann in Feuerwehruniform, Sportabzeichen an der linken Brusttasche, gerade 40 Jahre alt. Doch der Krieg machte ihn älter. Elf Tage und Nächte war er pausenlos im Einsatz. „Nach drei Tagen saßen meine Leute völlig erschöpft auf dem Bürgersteig in der Friedensallee.“ Es gab kein Wasser mehr zum Löschen.

Mit Schaufeln und Decken wurde glühender Schutt aus den oberen Stockwerken der Häuser geräumt, damit er sich nicht bis in die Keller durchbrennen konnte. Asphalt war aufgeweicht. Und die Feuerwalze vernichtete jeden, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.

Am Tag nach dem ersten schweren Angriff suchte Walter Wullenweber seine Schwester, die im Stadtteil St. Georg, in der Nähe des Hauptbahnhofs, wohnte. Vergebens, er fand sie nicht zwischen all den Toten. „Ich hätte auch nicht mehr weinen können“, sagt er heute. „Bei so einem Anblick kommt etwas in dir hoch, das kann man nicht beschreiben. Eine Stille, die fast weh tat. Den Blick nach oben: Ich habe Gott gesehen - war mein Gedanke.“

Von der Feuerwache in Altona ging der Blick bis an die Elbe zur Werft von Blohm+Voß. Vorher mit Häusern bebaut, jetzt nur noch ein Ruinenfeld. Feuerwehrmann Wullenweber mußte sein Rad über den Schutt tragen, fahren war nicht mehr möglich. Auf einem seiner Gänge sah er eine Katze aus den Trümmern kriechen. „Sie miaute mich ganz schrecklich an. Ich erschlug sie mit einem Fensterholz.“ Ihre Pfoten waren bis auf vier Stümpfe verbrannt. Das war eines seiner schrecklichsten Erlebnisse.

Auch die Feuerwache in der Mörkenstraße wurde von einer Bombe getroffen. Walter Wullenweber vermutet Absicht: „Die wollten, daß nichts gelöscht werden kann.“ Eine weitere Bombe bohrte sich als Blindgänger in die Erde. „Da fuhren wir noch wochenlang drüber, ohne daß sie entschärft wurde.“ Neben der Feuerwache war ein Munitionsdepot.

„Ich habe nie Angst gehabt“, sagt Walter Wullenweber. Nicht vor den Bomben und nicht, als er gesehen hat, wie ein Kollege bei einer Explosion auf einem Tankdeckel 20 Meter in die Luft flog und dann senkrecht in die lodernden Flammen stürzte. „Wirklich schlimm waren nur die Denunziationen im Kollegenkreis.“ Und die nahmen nach den Bombennächten zu, je näher das Kriegsende rückte.

Auch Walter Wullenweber mußte zur Gestapo, weil er öffentlich am Endsieg gezweifelt hatte. Er kam glimpflich davon - ein Kollege wurde nach einer Anzeige hingerichtet. „Das war Kuttel Lauschmann“, erinnert sich der pensionierte Feuerwehrmann. Er selbst war nie in der Partei, hat deshalb kein Verdienstkreuz bekommen, obwohl er zweimal vorgeschlagen wurde.

Heute ist er stolz darauf. Sein Haus in Quickborn bei Hamburg hat er selbst gebaut. Eine kleine Laube daneben aus Kriegstrümmern. Er heizt noch mit Kohle und malt Ölbilder. Naturmotive, heile Welt. Wie er in den Bombennächten über den „Feind“ gedacht hat? „Viele haben die Briten gehaßt, ich nicht. Ich habe meine Pflicht getan und versucht, möglichst viele Menschen vor den Flammen zu retten.“

Lesen Sie zum Thema auch den Text von H. E. Nossack auf Seite 17