Nachschlag

■ Jürgen Holtz meets Rainald Goetz meets Schiller Theater

Was tut ein passionierter Stammtischphilosoph, wenn ihm statt einer belebenden Runde plötzlich nur zehn leere Holztische zur Verfügung stehen? Er wandert von einem zum anderen, potenziert die Anzahl seiner Blickrichtungen auf das Leben, zeigt sich notgedrungen wendig im Erfinden immer neuer „Andererseits“-Sätze, bis sich sein jeweiliges Thema in nichts aufgelöst hat und er sich ein neues sucht. „Katarakt“ hat Rainald Goetz diesen einsamen Redeschwall eines älteren Mannes betitelt, der in elf Abschnitten vom Hütchen aufs Stöckchen führt und wieder zurück.

Wie ist das mit der Wahrnehmung, der Sexualität, dem Fernsehen, dem ganzen menschlichen Leben überhaupt? Ekelhaft, oder? Andererseits: Schade, daß man so wenig weiß. Aber wenn man – wieder andererseits – bedenkt, was die Menschheit bisher alles geleistet hat, Mondflüge, Waschmaschinen... Bei Goetz wird das Denken zur Zwangsvorstellung. Das Selbstverständliche, einmal reflektiert, mutiert zu einem Konglomerat existentieller Fragezeichen, die den, der sie setzt, an die Grenze des Wahnsinns treiben. – Jürgen Holtz ist dieser in den Wahnsinn des Alltags abdriftende im dritten Teil von Goetz' „Festung“-Trilogie, die in Hans Hollmans Regie im vergangenen Dezember in Frankfurt/Main uraufgeführt wurde. Aus Solidaritätsgründen hat man den 90minütigen „Katarakt“ jetzt an zwei Abenden im Foyer des Schiller Theaters gezeigt. Ohne Beleuchtung, sozusagen als „experimentelle Kostprobe“ auf die eigentliche Inszenierung, die im Herbst auf der großen Bühne gastieren soll, wie Hausherr Clauß vor der Vorstellung optimistisch ankündigte.

Holtz, der Fernsehnation als „Motzki“ bekannt, ist mit geradezu kindlicher Ernsthaftigkeit am Werk. Das ist folgerichtig, denn nur für den Naiven versteht sich nichts von selbst. „Ich glaube schon, daß jeder alles lieber verstehen würde als nicht“, sagt er grüblerisch. Und da ihm niemand Paroli bietet, fällt ihm schließlich selbst ein, wie unerträglich jedoch auch das totale Verstehen wäre. Andererseits. Ab und zu bricht er ab, schreit oder will nicht mehr weiter denken und reden. Da ruft ihn dann die Souffleuse zurück in den Zeugenstand. Und wie ein folgsamer Schüler setzt er seine Daseinsbetrachtungen fort, Lektion für Lektion. Je vielseitiger die Überlegungen, desto tückischer die geistigen Stromschnellen, desto sicherer der Untergang.

Gerührt erinnert sich der Mann auf der Bühne an Momente in seinem Leben, in denen er eine Veränderung an sich bemerkte. Euphorisch blitzen da die Augen, um sich dann wieder angewidert zusammenzukneifen: „Biografie – gräßlich“. Eigentlich bleibt ja nur der Tod. Aber zum Tod gehört ein Testament. Schon wieder so was Abartiges. „Da noch reinregeln wollen im totalen Nicht-Ich...“

Holtz spricht schnell und etwas unscharf, so wie Einsame eben zu sich selbst sprechen. Momentweise überschwemmt der Fluß der Rede das Gesagte, als wäre es alles gar nicht so wichtig. „Küchenphilosophie oder Lebenserfahrung? Eigentlich nicht zu unterscheiden.“ Am Ende hat er ein Glas zerbrochen, einmal in den Spiegel geschaut, mehrere Stühle umgeworfen und 90 Minuten geredet. „Hm, na ja“, sagt er da schließlich und geht langsam ab. Petra Kohse