Zwei magische Buchstaben

OM, der skandalumwitterte Fußballclub Olympique Marseille, ist Heiligtum und Hoffnung der gebeutelten Stadt am Mittelmeer  ■ Aus Marseille Peter Bausch

„OM“! Zwei Buchstaben, zwei Farben. Azurblau wie das Mittelmeer, wenn der Mistral durch das Rhônetal pfeift. Weiß wie die spätestens jetzt verlorene Unschuld. OM, die zwei Buchstaben für „Olympique de Marseille“, bezeichnen eine Religion. Der Fußballclub als einigendes weiß-blaues Band für eine Stadt und eine ganze Region, die tief zerrissen sind. Eine Arbeitslosenquote von über 15 Prozent, der unaufhaltsame Niedergang des einst so mächtigen Hafens, der Abschied von Industrie und Gewerbe ins provenzalische Hinterland.

Die Einwohnerzahl von Marseille geht laufend zurück, aber der legendäre schlechte Ruf bei Touristen hält sich beharrlich am Leben. Marseille hat, wieder einmal in seiner über zweitausendjährigen Geschichte, keinerlei konkrete wirtschaftliche Perspektiven. Aber die Stadt hat OM, seit 1898. „Eine Institution, eine Religion, wie sonst nur in Neapel oder in Liverpool“, sagt Phillippe Septanil, wie so viele vom blau-weißen Virus angesteckt. „Der Club zieht alle in seinen Bann. Vom hochbezahlten Chirurgen bis zum einfachen Straßenkehrer.“

OM. Die zwei magischen Buchstaben. In keiner anderen französischen Stadt – abgesehen vielleicht von Saint-Etienne in den Siebziger Jahren – macht der Fußball so heftige Leidenschaften frei wie in Marseille. „Egal wie die Konsequenzen dieser jämmerlichen Affäre aussehen“, schrieb gestern Pierre Andréis in der kommunistischen Tageszeitung La Marseillaise, „es ist fürcherliches Unheil angerichtet worden. Ganz Marseille soll schuldig sein. Schuldig wegen seiner Leidenschaft, obwohl die Stadt und ihre Einwohner Opfer sind.“

Phillippe Septanil ist morgen im „Stade Vélodrome“ zum Saisonauftakt gegen die „Nordisten“ aus Lens: „Ich möchte sehen, wie das Publikum reagiert, wissen, ob die Stimmung gekippt ist. Für die Leute ist jetzt klar, daß das Spiel gegen Valenciennes gekauft wurde.“

Valenciennes, hoch im Norden Frankreichs, ist zum Alptraum für Marseille geworden. Der blau- weiße Freudentaumel nach dem Europacupsieg gegen den AC Mailand in München, für Phillippe Septanil „einer der schönsten Tage in meinem Leben“, ist seit der Aufdeckung des Bestechungsskandals im französischen Profi-Fußball zur wahrhaft olympischen Tragödie geworden: „Vor vierzehn Tagen habe ich noch gesagt, daß wieder einmal alles getan wird, um OM eins auszuwischen. Marseille hat viele Neider. Aber jetzt? Ich komme ins Grübeln, weiß nicht, ob ich jemals wieder wie 1991 nach Bari oder 1993 nach München zu einem Europacupfinale von OM fahren soll.“

OM, zwei Buchstaben als rotes Tuch für das französische Fußball- Establishment. „Der Verein hat angeeckt, gestört. Man mußte die Achillesferse finden, um ihn fertigzumachen“, schreibt Pierre Andréis: „Es ist vollbracht. Bernard Tapie, der Präsident, hat die Reihen der diskreten Domherren-Kaste durcheinandergewirbelt. Und Erfolg gehabt. Noch nie hat ein französischer Club einen Europapokal gewonnen. Jetzt muß er für seine unkonventionellen Methoden büßen. Und mit ihm OM und die ganze Stadt.“

Im rosaroten Provençal, in dem OM-Sprecher Jean-Louis Levreau leitender Redakteur ist, würde sich niemand über eine solche Ehrenerklärung wundern. Aber selbst das KP-Blatt und der stramm- rechte Méridional stehen hinter Bernard Tapie. Wenn's um OM geht. Der französische Paradiesvogel, mehr als umstrittener Firmensanierer, rätselhafter „adidas“- Käufer und -Verkäufer, Minister, Regionalrat und einer der wenigen linken Abgeordneten, die im März ihren Sitz in der Nationalversammlung behalten haben, ist der Mann, an dem sich die Geister scheiden. Ein Medienstar, der begriffen hat, was Marseille von OM erwartet.

OM, zwei Buchstaben für eine Religion, ist nicht erst seit Tapie ein Spiegelbild der Stadt: „Das Stadion ist eine lebendige Karte für die Geographie der Stadt“, hat der Soziologe Christian Bromberger herausgefunden: „Die Mitgliedschaft im Verein ist ein Barometer für die Integration.“ In der Nordkurve sitzen die Jungen, Schüler, Arbeiter, aber auch die Maghrebiner aus den trostlosen Betonburgen im Norden der Stadt, lärmend und spaßig. In der Südkurve die „Ultras“ aus den schicken Wohngebieten, perfekt organisiert und vernünftiger, wenn ein Tor fällt. Die „Ganay“-Tribüne ist für die „echten“ Marseiller reserviert, über deren Akzent ganz Frankreich schmunzelt, auf der „Tribune Jean Bouin“ sitzt der Gratin der Stadt; Politiker, Literaten wie Edmonde Charles-Roux, die Frau des legendären Bürgermeisters Gaston Defferre, Mitglieder der Französischen Akademie und Industriekapitäne. Nur dort besteht die Gefahr, daß die „ola“ im fast immer vollbesetzten Stadion unterbricht.

Die Leute auf Jean Bouin lieben die Techniker auf dem Rasen, haben Respekt vor Vollprofis wie dem Ex-Stuttgarter Abwehrrecken Karl-Heinz Förster. Die Fans in der Kurve beten die exotischen Stürmer-Stars an. Vor zwanzig Jahren den Schweden Magnusson und den Jugoslawen Skoblar, vor zwei Jahren den Briten Chris Waddle und heute den Deutschen Rudi Völler. OM hat schon immer von seinen Ausländern gelebt, Marseille, der Schmelztiegel der Nationen, schon immer sein Spiegelbild im Fußballklub gefunden. In den Dreißiger Jahren trainierte der Brite Charlie Boll das erste Profi-Team, zwei Ungarn, Joseph Eisenhoffer und Willi Kohut, waren die ersten Stars im Vélodrome, der deutsche Legionär Willi Heiss bestritt 1940 das französische Cupfinale im Trikot von OM. Im selben Jahr kickte ein gewisser Ahmed Ben Bella mit, zwei Jahrzehnte später Präsident der Republik Algerien.

„OM gehört zum Erbe von Marseille, ist nicht im Besitz des französischen Fußballverbands“, warnt Pierre Andréis: „Wir lassen nicht zu, daß der Club wie ein Spielzeug zerschlagen wird. Die Leute haben die Nase voll, daß mit dem Finger auf sie gezeigt wird.“ Es reicht jetzt. Nach sieben Wochen Affärenklatsch will die Stadt jetzt einen Schlußstrich ziehen: „Die Geschichte wird langsam unerträglich“, sagt der Fotograf Claude Almodovar. „Laßt die Mannschaft auf dem Rasen die Antwort geben“, fordert Jacques Pelissier, Chef des zentralen Fanclubs. Morgen, gegen Lens, trägt das „Stade Vélodrome“ wieder sein blau-weißes Festtagskleid. OM, die zwei magischen Buchstaben in Marseille, werden nicht durch einen Skandal ausradiert.