Gib den Armen Colabrei

Das Hamburger Musiker-Projekt Station 17 pflegt statt Musikpädagogik die freie Improvisation von Behinderten und Nichtbehinderten, von „Pflegefällen“ und „Fehlerpflegern“  ■ Von Thomas Kallweit

„Ding dong, bing bong. Heute spiel ich mich selber doof. Er spielt ein Lied mit Doofen. Der spielt ein Lied der Doofen.“ – genau so fängt das vierte Stück auf der CD „Genau so“ an. Gesungen wird es von Andreas Lehrke, einem der rund 50 Musiker des Hamburger Projektes Station 17, in dem sogenannte geistig Behinderte gemeinsam mit Nichtbehinderten Stücke machen, improvisieren, CDs aufnehmen und auch live auftreten. Ein Teil lebt in den Alsterdorfer Anstalten, der Rest arbeitet dort – und fährt nach der Arbeit nach Hause.

Die Betreuer oder „Fehlerpfleger“, wie sie liebevoll von den „Pflegefällen“ tituliert werden, haben das „Lied der Doofen“ zusammen mit Andreas Lehrke eingespielt. Der reflektiert im Text übers Zusammensein mit „Doofen“ – mit „Nichtbehinderten“ – aus der Sicht eines „Behinderten“. Musiktherapie soll das nicht sein; auch nicht „Aktion Sorgenkind“, wie im Begleitheft zur CD klargestellt wird: „Wenn unsere Musik jemanden betroffen machen sollte, so tut uns das nicht nur leid, sondern nervt ganz gewaltig.“ Der Anspruch lautet: „Dies ist Unterhaltung.“

Wer in seinem Leben schon einmal mit „geistig Behinderten“ zu tun gehabt hat – und das wird leider die Minderheit deutscher BürgerInnen sein, die Berührungsängste der „Doofen“, ist immer noch groß –, der weiß, daß die Grenzen zwischen der Norm und ihrem Widerpart, zwischen Fehlleistung und „Kunst“ ohnehin fließend sind. Um solche Grenzerfahrungen geht es den Musikern von Station 17 – und um deren künstlerische Gestaltung. In diesem Punkt gibt es keinen Unterschied zu so vielen Rockbands, die ihre Inspiration aus Drogen, Lifestyle und Literatur geschöpft haben. Mehr noch: Station 17 haben – das beweist „Genau so“ schon beim ersten Hören – mit lautmalerischer Sprache und Rockinstrumentarium mehr bewerkstelligt, als das Gros der Rockhorde, die per Äther und MTV bloß noch ihre typische Symptomatik absondert.

Benutzt werden herkömmliche Instrumente – Schlagzeug, Baß, Gitarre, Keyboards, Bläser –, wobei viele der Beteiligten die Klangerzeugungsmittel ständig wechseln. „Hier machen wir Aufnahmen. Mit schwarzen und weißen Tasten wird Klavier gespielt. Ich spiel auch sonst noch Gitarre, und Orgel spiele ich und Schlagzeug auch. Ganz wunderbar. Und den Rhythmus, den halt ich auch raus, den behalte ich ganz deutlich.“ So erklärt Hans-Jürgen Witt sein musikalisches Selbstverständnis auf dem ersten Stück der CD, während sich im Backing eine angerissene Bluesphrase verhalten zu minimalen Schlagzeugakzenten drückt. Hat was von Helge Schneider.

Das „Lied der Doofen“ von Sänger Andreas Lehrke, der auf der ersten Station 17-CD noch zur Musik der Toten Hosen eine Ansprache an diese hielt, kommt dagegen in einem Reggae-Groove daher. Ein anderer Vokalist, Peter Wesler, liebt Kirchenlieder und gibt ein „Hallelujah“ zum Besten; oder textet auf einem „Bist Du Macht Oh Reich Mit Mir“ betitelten Stück Zeilen wie: „Neger, bist du weiß? Arbeit kommen Negermann, Morgen aufstehn, Neger erstmal, Autofahren hin. Essen Frühstück auf den Neger, Arbeit kommen hier. Kumbu Kumbu Kumbu. Lumbenowidu. Arbeit muß Du eh. Arbeit muß ich armer Mann. Arbeit muß Du fleißig. Arbeit mit der Negermann. Afrika, kuck' zu, bitte. Neger muß arbeiten, Afrika, kuck zu bitte. Kuck' mal danach Deine Neger an. Arbeit ist sehr teuer, Mann. Neger braucht mal Geldarbeit. Gib' den Armen Colabrei. Heute macht den Arbeit frei. Bist Du Macht Oh Reich mit dir.“

Kommentar von Kai Boysen, dem Koordinator und Organisator von Station 17: „Peter Wesler denkt sich immer viel aus. Das Stück entstand zu einer Zeit, wo er, der dunkelhäutig ist, sich viele Gedanken über seine Herkunft machte. Peter bezeichnet jeden Menschen als Neger. Es kann für ihn gar nicht anders sein; er ist einer, und alle Menschen sind Brüder, also müssen für ihn alle Menschen Neger sein. Ganz klar.“ Das ist von bestechender Logik. Die Macht der Sprache und der Assoziation – nach dem Augenzwinkern dahinter darf gesucht werden.

Die Instrumentalstücke auf „Genau so“ lassen ebenfalls Platz für Assoziationen. Man hat für sie öfters den Vergleich mit den legendären Can bemüht, und das trifft insofern zu, als sparsame Mittel und spürbare Forschungslust ein erfreuliches Verhältnis eingehen. Doch ansonsten will man mit großen Namen eher wenig zu tun haben und das nicht ohne Grund. Kai Boysen: „Die erste CD von Station 17 war anders konzipiert als diese. Da waren zehn verschiedene musikalische Porträts von zehn verschiedenen Leuten drauf. Uns wurde damals vorgeworfen, wir hätten auf Kosten einer sauberen Produktion die Ideen der einzelnen Leute zurückgedrängt.“

Sprich: dadurch, daß einige prominente Musiker bei dem Debüt mitgeholfen hatten – und die Plattenfirma Phonogram deren Namen natürlich auf dem Cover hervorhob –, waren damals fatale Verzerrungen entstanden. So war etwa auf dem Cover zu lesen, F.M. Einheit von den Einstürzenden Neubauten, der bei einem Stück nur minimal bei der Abmischung mitgeholfen hatte, sei die treibende Kraft hinter Station 17.

In die gleiche Falle will man nicht nochmal tappen. Auf „Genau so“ regiert ein improvisatorisches Sessionkonzept, wie Kai Boysen betont. Frei fließend sind die einzelnen Stücke entstanden, und so sind sie auch auf den Tonträger gekommen. Aus über fünf Stunden Material wurde gemeinsam ausgewählt, und das ergab genug für 70 spannende Minuten, die von der Prosakunst einzelner ErzählerInnen plus Lautmalerei plus Suspense leben. Mir ist in der derzeitigen Musikszene nichts Vergleichbares bekannt – mit Ausnahme vielleicht einiger Hamburger Workshops, die mit einem ähnlichen Improvisationskonzept auf die Bühne gehen. Natürlich ist so gesehen jedes Konzert einmalig. Station 17-Schlagzeuger Harre Kühnast: „Wenn wir versuchen würden, die Stücke live so zu reproduzieren, wie sie auf der Platte sind, dann würden wir außen vorlassen, daß einige Leute instrumententechnisch nicht in der Lage sind, einmal Gespieltes zu wiederholen.“

Und warum auch? Konzerte von Station 17, das hört man immer wieder (und von verschiedenster Seite), sind mitreißende, singuläre Ereignisse. Auch wenn live die Anzahl der Spielenden auf ein bühnen-kompatibles Maß reduziert werden muß – 40 bis 50 Leute lassen sich schon aus organisatorischen Gründen schwerlich zusammen auf Tour schicken – sorgt das Grundkonzept immer wieder für Überraschungen: Kreativität und künstlerischer Ausdruck werden vor allem von ihrer Prozeßseite aufgefaßt, dem Moment des Entstehens.

Und das hat durchaus Tradition, knüpft an die lange Geschichte der Improvisation an, die in jüngerer Zeit vor allem im Freejazz einen Statthalter gefunden hat. Hießen die Initiatoren in den Sechzigern Ornette Coleman und Albert Ayler, so waren es später dann Henry Cow in England und in Deutschland Faust oder eben Can, die dafür sorgten, daß der Faden nicht abriß. Und zu wünschen wäre es ja, daß auch heute wieder eine größere Akzeptanz für eine derart imagefreie, gegen Pop und seine Vermarktungsspielarten resistente Musik sich bildet. Und auch, daß Auftrittsmöglichkeiten da sind: Auf dem diesjährigen Moers-Festival haben Station 17 gefehlt, aber auf der im August stattfindenden Medienmesse „Popkomm“ werden sie vertreten sein.

Für das Plattencover und auch die Bühnendekoration arbeiten die Leute von Station 17 übrigens mit der Künstlergruppe „Die Schlumper“ zusammen. „Genau so“ etwa zeigt sehr expressiv, naiv geformte Figuren im Dubuffet- Stil, mit übergroßen Händen und Ohren, die zum Teil schlauchartig geformte Blasinstrumente spielen – Instrumente, die es so natürlich gar nicht gibt und schon gar nicht so zu benutzen sind. Aber es geht ja auch eher um die Kunst aus dem Fehler, der Abweichung heraus. Einige MusikerInnen von Station 17 können ihre Instrumente tatsächlich nicht selbst stimmen; andere können sich kaum in unserer Verbalsprache verständigen, sind Musiker nicht im „konventionellen“ Sinne. Oder bloß in dem, in dem Sonic Youth mit ihrer Grauwertearchaik welche sind. Genau so wenig, genau so viel.

Station 17: Genau So (What's so funny about...)