: Schweine sind auch nur Menschen
Versuch einer Ehrenrettung des Borstentiers: Aus der Kulturgeschichte von Schwein und Mensch berichtet ■ Caro Wenzel
Die deutschen Eber haben bisher ja ganz schön Schwein gehabt, denn obwohl in Deutschland 60 Prozent der verzehrten Fleisch- und Wurstwaren vom Schwein stammen, wollte den Ebern bisher niemand an den Speck. 200.000 Schweine, genauer gesagt Säue müssen zur Deckung des Bedarfs im Land der Schnitzel- und Eisbeinesser pro Arbeitstag geschlachtet werden. Eberfleisch war bis letztes Jahr verpönt, da es bei der Verarbeitung üble Gerüche verbreitet, um nicht zu sagen saumäßig stinkt.
Doch pünktlich seit dem 1.1.1993 ist auch Eberfleisch EG- weit zugelassen sein. Das Datum ist symbolisch, denn Schweine werden hierzulande üblicherweise alle Neujahr wieder aktuell, meist jedoch eher in Form von herzigen rosa Marzipanschweinchen, die Glück bringen sollen.
Aber die Symbolik des Schweines ist seit alters her durch eine ausgeprägte Ambivalenz gekennzeichnet. Die sinnbildlichen Aussagen betonen zum einen die zerstörende Kraft, zum anderen Unsauberkeit, Freßgier und Lasterhaftigkeit, zum dritten aber auch Glück und Fruchtbarkeit. Für kaum ein anderes Haustier ist ein derart breites Spektrum an Emotionen charakteristisch, von rigoroser Ablehnung bis hin zu überschwenglichen Lobeshymnen. Häufig haftet dem ringelschwänzigen, grunzenden Vierbeiner das Vorurteil an, gefräßig oder faul und deshalb für manche Beschimpfungen gut zu sein: Drecksau, Schweinerei, säuisch, Schweinigel, Ferkelei, Schweinehund, saudumm sind nur einige Beispiele.
Merkwürdigerweise dient das männliche Schwein, der Eber, nicht zu derart negativen Wortschöpfungen. Aber vielleicht ändert sich das ja mit der drohenden Gleichberechtigung unter den Schweinen, soweit es um das Kotelett geht.
Überhaupt, das Kotelett... Die Götter zumindest scheint der Geruch des Eberfleisches nicht gestört zu haben. Die Asen zum Beispiel, die nordischen Götter, besaßen nach der Edda-Sage in Walhalla einen Eber namens „Särimini“ oder „Sachrimmer“, von dem jeden Tag Gebratenes verzehrt wurde, und der abends wieder unversehrt war.
Schweinekotelett hin oder her – es muß einfach einmal angemerkt werden, daß alle Formen der Beschimpfung dem Schwein gegenüber eine Undankbarkeit sondergleichen darstellen. Es ist auch außerhalb Silvester höchste Zeit für eine Ehrenrettung des Borstentiers, denn das Schwein nützt dem Menschen in vielfältiger Art und Weise; meist allerdings erst nach seinem Tode.
Abgesehen von seiner Funktion als Fleischlieferant dient es beispielsweise auch zunehmend human- und veterinärmedizinischen Zwecken: Bauchspeicheldrüsen von Schweinen werden als Ausgangsmaterial für die Herstellung von Insulin verwendet. Aufbereitete Schweinehaut dient zum Abdecken großflächiger Verbrennungen dritten Grades. Es existiert ein Blutstillungsmittel, das aus Bindegewebsfasern von Schweinen hergestellt wird.
Derzeit wird geprüft, ob einzelne Schweineorgane, zum Beispiel Nieren, dauerhaft als Organersatz verpflanzt werden können. Der Einsatz von Schweinen zu Forschungszwecken erstreckt sich über Bereiche wie Transplantationschirurgie, die Herz-Kreislauf- Forschung, die Strahlenbiologie, die Onkologie, die Endokrinologie, die Ernährungsforschung und viele mehr.
Dies alles wird möglich, weil kaum ein anderes Säugetier – ausgenommen den Menschenaffen – dem Menschen anatomisch und physiologisch so nahe ist wie das Schwein. Ein Grund mehr, ein bißchen Dankbarkeit zu zeigen und das Schwein (nicht nur) zum Fressen gern zu haben!
Die Geschichte zeigt, daß dem Borstentier in manchen Kulturen eine hohe Wertschätzung zukam. Und es lebt ja auch schon recht lange mit dem Menschen zusammen: Zum Haus- und Nutztier wurde das Schwein vielerorts mit dem Seßhaftwerden der Menschen zu Beginn der Jungsteinzeit.
Dies gilt allerdings nicht für die nomadisierenden Stämme, denen Schweine beim Herumziehen eher hinderlich waren, und die auch heute noch bevorzugt Schafe und Ziegen halten. In der Bibel wird dennoch an einzelnen Stellen Schweinehaltung im vorisraelischen Palästina erwähnt.
Entgegen früheren Ansichten stammen alle heutigen Hausschweine vom eurasischen Wildschwein Sus scrofa L. ab.
Aus Afrika stammt die folgende Erzählung, die zeigt, „Wie das Schwein zum Menschen kam“ und was für Folgen das hatte:
„Einst lebte das Schwein, das jetzt beim Menschen haust, mit seinem Verwandten, dem Wildschwein, im Walde. Eines Tages sagte es zu ihm: ,Lebewohl, ich ziehe jetzt in das Dorf und will bei den Menschen wohnen. Ich will von den guten Speisen mitessen, die die Menschen zuzubereiten verstehen. Hier im Busch gibt es ja nur bittere Pflanzen.‘ Das Wildschwein warnte seinen Artgenossen: ,Hüte dich vor dem Dorf. Dort hassen sie uns Tiere.‘ Aber das Schwein ging trotzdem ins Dorf. Dort wurde es freundlich empfangen. Man gab ihm einen Stall, und es wurde gut gefüttert. Nach einiger Zeit bekam das Schwein Junge. Und siehe da, als die Ferkel die Mutter nicht mehr brauchten, wurde es geschlachtet. Wenn ein Schwein geschlachtet wird und dabei quiekt und schreit, hört man deutlich heraus: ,Das Wildschwein warnte mich, geh' nicht in das Dorf. Aber ich sagte, ich gehe doch, ich gehe doch‘ ...“
Frühe Zentren der Hausschweinwerdung waren allerdings nicht Afrika, sondern vor allem der Vordere Orient, aber auch China, Ägypten und Südosteuropa, beispielsweise die nordgriechische Landschaft Thessalien.
In anderen Erdteilen und Ländern wie Amerika, Australien oder Neuseeland existiert der eurasische Wildschweintyp, aus dem das Hausschwein hervorging, nicht. Die dortigen Hausschweinbestände stammen von Schweinen ab, die von Kolonisatoren – zumeist aus Europa – eingeführt wurden.
Bis ins 18.Jahrhundert hinein wurden die Schweine in vielen Kulturen hauptsächlich auf Waldweiden gehalten, wovon die heutige deutsche Mastsau nur träumen kann. Aber Schweine waren eben anfangs keinesfalls nur zum Mästen da. Es ist durchaus möglich, daß die ersten von Menschen gehaltenen Schweine nicht gleich Nutztiere im heutigen Sinne waren. Möglicherweise wurden sie zu Anfang mehr zur Geselligkeit gehalten und nur gelegentlich verspeist beziehungsweise dienten sie als Nutztiere in anderer Hinsicht: In der Steinzeit wurden die Hauer der heute ins Gerede gekommenen Eber als Produktionsmittel genutzt, beispielsweise bei den frühen Bewohnern der schweizerischen Pfahlbauten oder bis in die jüngste Vergangenheit bei den Ureinwohnern pazifischer Inseln, wo sie als Stichel, Spitzmesser, Schaber und Messerklingen Verwendung fanden.
Lange Zeit war auch ein magisch-kultisches Denken in Zusammenhang mit Schweinen von Bedeutung. Schweine wurden zum Beispiel als Opfertiere verwendet, um die Götter gnädig zu stimmen, unter anderem zum Schutz der Saaten. Schweineopfer sind bekannt von den alten Ägyptern, Babyloniern und Phönikern, von den Griechen und Römern der Antike und den Germanen.
Aber Schweine konnten auch selbst zum Gott werden: Die Kelten besaßen einen Schweinegott namens Moccus.
Dem germanischen Gott der Fruchtbarkeit, Freyr, war der Eber „Gullinbursti“ heilig, auf dem er auch durch den Himmel ritt. Im alten Ägypten stellten sich die Menschen die Himmelsgöttin Nut gelegentlich als Sau vor. Jeden Morgen verschlang diese die Sterne, wie manchmal eine Sau ihre Ferkel. Am Abend gebar Nut dann von neuem die Sterne.
In religiösem Kontext stehen Schweine noch heute bei Völkern jüdischen oder islamischen Glaubens sowie bei Angehörigen der Hindu-Religion. Ihnen gilt das Schwein als unrein; aufgrund religiöser Verbote essen sie kein Schweinefleisch.
Neben Schweinen als Gegenstand religiöser Bräuche ist auch einiges an Aberglauben überliefert, unter anderem aus Deutschland: Im sogenannten Angangglauben galt das Schwein oft als ungünstiges Vorzeichen. Begegnete man bei Antritt einer Reise oder auf dem Weg Schweinen, so sollte dies Unglück bedeuten. Manchmal galt es dabei nur als unheilverkündend, wenn Schweine von rechts gesehen wurden („Schweine rechts, bedeutet Schlecht's“).
Als Eheorakel ist früher das „Schweinestallhorchen“ benutzt worden. Dazu mußte in der Weihnachtsnacht das neugierige Mädchen an der Stalltür anklopfen. Antwortete grunzend ein großes Schwein, war ein älterer Mann oder ein Witwer als Bräutigam zu erwarten; grunzte oder quiekte ein junges Schwein oder Ferkel, war der Zukünftige ein junger Mann. Antwortete im wahrsten Sinne des Wortes kein Schwein, hatte das Mädchen ein weiteres Jahr ledig zu bleiben.
Schweine haben immer auch etwas mit Geld zu tun. Man denke nur an das Sparschwein, das in Deutschland um 1700 aufgetaucht sein soll, offensichtlich aber schon wesentlich früher entstand, wie entsprechende Funde in Nordthüringen beweisen.
Zu allen Zeiten wurden Schweine als Handels- und Tauschobjekte genutzt. Noch in den Nachkriegsjahren stellten sie ein wichtiges Zahlungsmittel dar. Der Kuriosität halber sei erwähnt, daß während der Weltwirtschaftskrise in Dänemark um 1930 eine Frau ihre neue Dauerwelle mit vier Ferkeln bezahlen mußte – ein teurer Spaß.
Auf den Hebriden wurde noch zu Beginn unseres Jahrhunderts beim Kauf von Frauen deren Wert in Schweinen bemessen. Je nach Alter und Eigenschaften waren sie fünf bis 25 Schweine wert. Auch kuriosere Verwendungszwecke des Borstentieres lassen sich finden, die zum Teil mit seinen Lautäußerungen zusammenhängen.
In der Antike beispielsweise wurden Schweine bei kriegerischen Auseinandersetzungen zur Abwehr von Kriegselefanten benutzt, denn – wie der römische Schriftsteller Aelinianus schrieb – „dem Elefanten graust es vor dem Grunzen des Schweines“. Auf früheren englischen Segelschiffen wurden Schweine nicht nur als Nahrungsreserve, sondern auch als „lebende Nebelhörner“ mitgeführt: das Quieken der Tiere sollte Schiffskollisionen vorbeugen.
Der Wühltrieb und der hervorragende Geruchssinn der Schweine wurde unter anderem in England und Frankreich genutzt. In England wurden Schweine im Mittelalter als Jagdgehilfen anstelle von Hunden eingesetzt, zum Aufspüren, Vorstehen und Apportieren. In Frankreich dienen bis heute Säue zum Aufspüren von Trüffeln. Aus Deutschland wurde 1987 über die Sau „Luise“ berichtet, die für die Polizei Rauschgift erschnüffelte.
Die gute Lernfähigkeit der Schweine führte zum Einsatz bei Zirkus- und Varieté-Vorstellungen. Zirzensische Schweinenummern waren im zaristischen Rußland häufig. Teilweise waren sie recht spektakulär: Zum Beispiel war es Mitgliedern der Artistenfamlie Durow gelungen, ein Schwein zum Fallschirmspringen abzurichten.
Bei Volksfesten tragen hierzulande noch heute Schweinerennen und „Ferkelgreifen“ zur Belustigung bei, dies allerdings zum Ärger zahlreicher Tierschützer.
Nachdem nun also die Vielseitigkeit des grunzenden Hausgenossen dargestellt wurde und somit vielleicht auch etwas zur Ehrenrettung eines vielfach verkannten „Verwandten“ beigetragen werden konnte, zum Schluß noch eine Warnung: Es sind aus Vergangenheit und Gegenwart auch Fälle von übertriebener Schweineliebe überliefert: Der französische Schriftsteller Balthazar Grimond de la Reynière (1758–1837) soll ständig ein gewaschenes und parfümiertes Schwein um sich gehabt haben. Es lief neben ihm her, wenn er ausging und erhielt als „Leibschwein“ bei Tisch die besten Happen zugesteckt. Vor allen anderen Schweinen soll Monsieur Reynière zum Gruß den Hut gezogen haben.
Besondere Auswüchse bringt die Schweineliebe in den USA hervor. Im Jahr 1986 berichtete die Presse, daß es in South Carolina eine sogenannte Schweineschnauzengesellschaft geben soll. Diese habe das Ziel, das Ansehen des Hausschweines zu heben und es als gleichberechtigten Hausgenossen zu betrachten. Bei einem jährlich veranstalteten Wettbwerb soll es auch die Disiplin „Schweineküssen“ geben.
„In“ sind in den USA auch Mini-Schweine als Hausgenossen, erschwinglich ab rund 3.000 Dollar. Angeblich sind sie leicht zu halten, darüber hinaus äußerst sauber und stubenrein. Wenn Herrchen oder Frauchen mit seinem Vierbeiner um der Exzentrik willen durch die Straßen von New York flaniert, übersieht er/sie dabei allerdings oft, daß Schweine äußerst gesellige Tiere sind, die bei Einzelhaltung oder Streß psychische Störungen entwickeln können – genauso wie der Mensch eben...
In Frankreich gibt es noch heute einen Wettbewerb im Schweinegrunzen, und zwar nicht für Schweine, sondern für Schweineliebhaber. Die Resultate sollen ziemlich authentisch klingen. Im Jahr 1987 siegte ein Lehrer aus Biarritz. Er bestach besonders in der Disziplin „Grunzen des Ebers beim Bespringen“.
In jedem Menschen steckt offensichtich auch ein Schwein, wie schon George Orwell in seinem Roman „Animal Farm“ bemerkte. Am Schluß heißt es dort: „Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein und dann wieder von Schwein zu Mensch; doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war... “
Und – ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen – vielleicht sind ja auch Sie ein Schwein. In China jedenfalls ist das Schwein eines der zwölf astrologischen Tierkreiszeichen. Wenn sie also 1911, 1923, 1935, 1947, 1959, 1971 oder 1983 geboren wurden, dann gehören Sie dazu... 1995 ist wieder ein „Jahr des Schweines“. Ob wir dann auch Eber essen, sei dahingestellt, jedenfalls bleibt noch etwas Zeit zum Nachdenken... Bis dahin: Viel Schwein!
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