■ Es gibt für Bosnien eine moralisch vertretbare Lösung
: Die Flucht vor der Entscheidung

Als mich kürzlich, am Ende eines langen Gesprächs in Sarajevo, eine französische Journalistin fragte, wie ich über die Zukunft Bosnien-Herzegowinas denke, war ich selber von meiner Antwort bestürzt: die junge Frau aus Sarajevo, die die Französin zum Dolmetschen begleitet hatte, obwohl wir ohne sie auskamen, da wir uns auf englisch unterhielten, drehte zuerst den Kopf weg, um ihre Tränen zu verstecken und wegzuwischen; und dann begann auch die Journalistin zu weinen!

Ich hatte ja nur das gesagt, was ich denke. So ungefähr: daß uns gar nichts gelingt, daß wir von allen verlassen und der Zerstörung preisgegeben sind, und daß mein eigenes höchstes Ideal ein vereinigtes Europa in einer Welt der Menschenrechte wäre.

Statt dessen nimmt die Welt Konzentrationslager, massenhafte Vergewaltigung, Massaker und Vertreibung gleichgültig hin. Aber Bosnien-Herzegowina wird nicht nur so lange weiterleben, bis die letzten Bosnier und Herzegowiner getötet oder vertrieben sind. Es wird noch viel länger leben, in den Erinnerungen Hunderttausender Kinder, die aus ihren Hinterhöfen, ihrer Kindheit und aus ihren Freundschaften vertrieben wurden, die bis an ihr Lebensende nur davon träumen werden, eines Tages zurückzukehren, als Befreier oder als Terroristen, ganz egal.

Hat Bosnien-Herzegowina wirklich eine andere bessere Zukunft als Vertreibung und Sehnsucht? In ihren fruchtlosen Bemühungen um eine Lösung der Krise auf dem Balkan ist die Weltgemeinschaft an ihren bisher niedrigsten Punkt gelangt: Sie redet von „Eindämmung des Konflikts“, davon, daß er sich nicht auf den Kosovo und Makedonien ausbreiten darf, während sie Bosnien endlos ausbluten läßt.

Alle drei Lösungsvorschläge, um die auf dem diplomatischen Parkett zwischen Genf und New York noch gerangelt wird, haben leider die praktische Zerstörung des Staates Bosnien-Herzegowina zur Folge.

Der Vance-Owen-Plan war das Beste, was die Welt Bosnien-Herzegowina bieten konnte: mit zehn Provinzen zwar, aber mit Respektierung der international anerkannten Grenzen des Staates und unter Fortbestand der zentralen Macht, wenn auch in wesentlich abgeschwächter Form. Der Plan hat auch große Mängel, vor allem in der Hinsicht, daß er in jeder Provinz im wesentlichen auf der Vormachtstellung einer der drei ethnischen Gruppen basiert; nach der primitiven, auf alter Balkanart erfolgenden Interpretation der selbsternannten „Volksvertreter“ führt das immer zu einer Unterwerfung aller anderen.

Das beste Beispiel dafür liefert der heutige Konflikt zwischen der bosnisch-herzegowinischen Armee und der HVO (Armee der Kroaten in Bosnien-Herzegowina). Zum Konflikt kam es, weil der Führer der HDZ (Kroatisch- Demokratischen Union), Mate Boban, den Vance-Owen-Plan als „grünes Licht“ zur Errichtung eines exklusiven kroatischen Staates im Staat verstand – mit eigenem Bildungswesen, Militär, Polizei und Behörden, auch sogar in Städten wie Mostar, Travnik, Bugojno, Konjic, Jablanica und anderen, wo nach der letzten Volkszählung von 1991 mehr Moslems als Kroaten leben.

Aber auch dieser unvollkommene Plan wurde praktisch begraben, indem die selbsternannte „Republika Srpska“ ihre Unterschrift verweigerte. Die Welt ist nicht bereit, dem Aggressor ihren Willen aufzuzwingen.

Die „Schutzzonen“, zu denen der UNO-Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet hat, wurden vielleicht mit der edlen Absicht entworfen, das Leben der Zivilbevölkerung in den sechs eingeschlossenen bosnisch-herzegowinischen Städten zu retten, dabei gibt es aber unzählige Nachteile. Erstens wird die Besetzung des größten Teils des bosnisch-herzegowinischen Staatsterritoriums anerkannt. Zweitens werden die Einwohner der „Schutzzonen“ zu einem Leben in einer Art Reservat verurteilt, ohne Kommunikation mit der Außenwelt.

Drittens wird es noch ziemlich lange dauern, bis die Weltgemeinschaft die Bevölkerung jener sechs Regionen tatsächlich schützt, was das tragische Beispiel Goraždes am besten zeigt: Hier wütet in einer der „Schutzzonen“ mit aller Brutalität eine Offensive der Tschetniks, täglich werden Tausende von Geschossen abgefeuert und Dutzende von Zivilisten getötet.

Eine Aufteilung Bosnien-Herzegowinas ist ein Konzept, das in Belgrad und Zagreb längst von Milošević und Tudjman gemeinsam vertreten wird. Es bietet auch die günstige Gelegenheit, auf Kosten des Drittstaates einige historische serbisch-kroatische Rechnungen zu begleichen. Es ist die schlechteste Lösung. Falls die Weltgemeinschaft dieses nazistische Projekt, einen exklusiven serbischen, einen ebenso exklusiven kroatischen und vielleicht als Trost einen kleinen muslimischen Staat im Staate zu schaffen, akzeptieren sollte, übernimmt sie gleichzeitig die Verantwortung für Jahrzehnte neuer Gewalt und Zehntausende von neuen Opfern. Denn solche Kleinststaaten können nur auf die gleiche kriminelle Weise entstehen, wie auch die verfluchte „Republika Srpska“ geschaffen wurde — durch „ethnische Säuberung“. Es würde ebenso viel Leid bringen wie das, was wir bisher gesehen haben.

Es gibt für Bosnien-Herzegowina eine vierte und einzig moralisch vertretbare Lösung, vor der sich die mächtige Weltgemeinschaft drückt. Sie würde die Aufhaltung und Bestrafung der Aggression bedeuten und Bosnien- Herzegowina als vollberechtigtem Mitglied der Vereinigten Nationen durch Aufhebung des Waffenembargos ermöglichen, sein legitimes Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen.

Wenn die Weltgemeinschaft die „entschlossenen Maßnahmen, einschließlich militärische“, von denen der amerikanische Präsident Clinton vor nicht allzu langer Zeit gesprochen hat, ergriffen hätte, hätte sie durch eine Kombination zweier Maßnahmen – Luftangriffe auf serbische Artilleriestellungen und andere militärische Ziele sowie die Bewaffnung der bosnisch-herzegowinischen Armee für die Selbstverteidigung – ein Gleichgewicht der Kräfte und die Bedingungen für die Erneuerung von Frieden und Demokratie in Bosnien-Herzegowina schaffen können. Schließlich ist Bosnien- Herzegowina ja ein Staat mit gleichberechtigten Bürger und Völkern, in dem die Rechte jedes einzelnen geschützt werden, unabhängig davon, ob er oder sie aus einem Gebiet mit muslimischer, serbischer oder kroatischer Bevölkerungsmehrheit kommt.

Alles andere bedeutet eine langfristige Verlängerung der tragischen Situation mit höchst unsicherem Ausgang. Aber für diese einzig richtige Lösung wäre eine neue Weltordnung mit eigener Führung vonnöten, und die gibt es, wie uns der Fall Bosnien-Herzegowinas zeigt, offensichtlich noch nicht. Kemal Kuspahić

Chefredakteur der in Sarajevo erscheinenden Tageszeitung „Oslobodjenje“ (Übersetzung aus dem Serbokroatischen: Will Firth)