Gefährliche Kunst der Ecke

■ Jenseits provinzieller IBA-Ästhetik: Zaha Hadid schuf ein scharfkantiges Gebäude an der Stresemannstraße / Sozialwohnungen in dekonstruktivistischer Hülle

Hausecken, schreibt der Mediziner Fred Fischer, sind die Stellen im Grundriß eines Bauwerks, an denen man die Orientierung verlieren kann. Ein Wechsel aus geordneter baulicher Kenntnis zu überraschenden neuen Eindrücken kann – an der Ecke – zu subjektiven Katastrophen führen. Der Professor, der sich jahrelang mit den psychologischen Komponenten der Wohnbauten befaßte, warnt daher labile Menschen vor scharfkantigen Eckgebäuden. Etwas Rundes sei weniger gefährlich.

Berlin besitzt mit dem eben fertiggestellten Bau der irakischen Architektin Zaha Hadid an der Stresemann-/ Ecke Dessauer Straße ein neues Gebäude, von dem Fischer dringlichst abraten würde. Die Planungen des kleinen IBA-Hochhauses für 25 Wohnungen und vier Läden gleicht auf den ersten Blick einer Baulandschaft aus unregelmäßig geformten Linien, seitlich gekippten Flächen und stürzenden Geraden, wie man sie aus den Lehrbüchern der dekonstruktivistischen Architektin, des Enfant terribles unter den Trümmerbaumeistern, kennt.

Als fulminanter Höhepunkt des Blocks überragt das keilförmige Hochhaus die achtgeschossige Ecke, deren scharf gezogene Kante durch die spitz zulaufenden Fassaden gesteigert wird. Dunkle Metallplatten, die „Panzerhaut“, als Verkleidung an der Stresemann-Seite und eine Glaswand entlang der Dessauer Straße unterstreichen die Gegensätzlichkeiten.

Neben den hohen Kopfbau stellte die Architektin einen langen, dreigeschossigen Riegel, dessen gläsernes Erdgeschoß den Läden Raum bietet. Auf dem Dach des Anbaus entsteht eine begrünte Terrasse.

Trotzdem, wer sich den Bau erschließt, bemerkt eine große Ordnung, die den Gesetzen der abstrakten Geometrie entspricht. Die horizontalen und vertikalen Linien hat Zaha Hadid spielerisch leicht zusammengefügt. Splitterformen fehlen. In dem verwinkelten Hochhaus steckt der dreigeschossige schmale Anbau fast wie ein Gelenk.

Hadids Bauwerk gegenüber dem Martin-Gropius-Bau ist das letzte Gebäude des sogenannten „IBA-Frauenblocks“ Stresemann-/Dessauer-/Bernburger Straße. In dem Wohnhof wurden zwischen 1988 und 1993 insgesamt 106 öffentlich geförderte Wohnungen für insgesamt 49 Millionen Mark von der DeGeWo realisiert. Die Wohnungen sind zum Teil behindertengerecht ausgestattet. Mit der städtebaulichen Rekonstruktion des Blocks als Bestandteil eines innerstädtischen Wohnquartiers ging einher, daß die Freiflächen verbessert, experimentelle Wohnformen und kinderspezifische Einrichtungen geschaffen wurden.

Die Grundrisse sollten frauenorientiertem Wohnen gerecht werden. Wohnraumküchen und Gemeinschaftseinrichtungen wurden geplant, auf dunkle Gänge und unübersichtliche Tiefgaragen weitgehend verzichtet.

Die Planungen der ersten Bauten wirken heute auf merkwürdige Weise vorstädtisch. Ihre Lage am Rande des einstigen Mauerstreifens konstituierte wohl den kleinstädtischen Stil über vier Etagen, der heute unmöglich erscheint. Großstädtische Wohnbauten im Zentrum Berlins dürfen heute nicht mehr wie baulichen Chiffren aus Bad Berleburg wirken. Auch Zaha Hadids kleines Hochhaus läßt nur zum Teil die provinzielle IBA-Ästhetik hinter sich. Doch es ist die Anstrengung zu spüren, mit der sie sich gegen die IBA-Traufhöhe zur Wehr setzte.

Mit ihrem Haus sprengt sie das Lückenschließprogramm ebenso wie die Höhenbegrenzung von 22 Metern. „Ich kam mit einem ungeheuren Gefühl der Begeisterung nach Berlin“, merkte Hadid einmal zu ihrem Projekt an. „Berlin, das ist die Stadt Mies van der Rohes und Hilberseimers. Statt dessen wurde ich mit einem hohen Maß an Biederkeit konfrontiert.“ Von den ursprünglichen Planungen sei „ein Kompromiß“ übriggeblieben, so DeGeWo-Sprecher Dirk Lausch zur taz. Ideale der Architektin und Förderbestimmungen des Senats hätten zu einem ausgewogenen Resultat gebracht werden müssen. Directors Cut? Statt der Steinfassade setzte Hadid die Metallfassade durch, der Durchgang zum Hof an der Dessauer Straße zitierte das fragmentierte Umfeld. Der Flachbau wurde so gestaltet, daß er das Hochhaus quasi anhebt. Hadid: „Das Hochhaus sollte etwas von der Dynamik deutlich machen, die zu unserer Vorstellung vom Stadtbild gehört, in dem die Veränderungen von Arbeits- und Lebensformen und die Bewegung, das Fließen der Räume in einem von Freiheit bestimmten Lebensgefühl spürbar sein sollen.“ Rolf Lautenschläger