„Laura“ Wallraff leimt Blüm

Tatort Hotel Miramar in Palma de Mallorca. Das Unrecht macht keine Ferien. Günter Wallraff verwandelte sich diesmal in das spanische Zimmermädchen Laura. Mit Haube und Schürzchen startete sie die „Aktion Norbert Blüm“  ■ Von Rüdiger Kind

Folgende Tagebuchnotizen Günter Wallraffs wurden nach seinem mysteriösen Verschwinden aus dem Hotel Miramar in Palma de Mallorca, seinem letzten Aufenthaltsort, aufgefunden und der Redaktion von Hoteldirektor Luis Ruiz freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Palma, Dienstag, 4. Juli. Schon drei Tage hier – wie lange kann ich noch tatenlos dem schamlosen Nepp zusehen, der dem Erholungsuchenden die letzte Mark aus der Tasche zieht. Aber auch wie das spanische Bedienungspersonal im Hotel vom patrón und den Touristen schikaniert wird, ist mir unerträglich. Leiden müssen immer nur die Kleinen!

Gestern am Strand Yvonne Bürsig aus Linsheim kennengelernt. Reizende Sachbearbeiterin und ÖTV-Mitglied. Mit ihr zum Abendessen im „El Cid“ gewesen – hoffte, berufliches und privates Interesse zwanglos miteinander verbinden zu können. Das Essen war vorzüglich, Yvonne eine charmante Gesprächspartnerin, der ich natürlich nicht sagte, wer ich bin. Wie ich am Strand bemerkte, hat sie „Ganz unten“ als Urlaubslektüre dabei. Meint, es sei „aufregend“. Ich fand sie „ganz oben“ aufregend. Ich fragte sie, ob ihr schon aufgefallen sei, wie abgehetzt der Kellner aussieht. „Sicher hat er einen 14-Stunden-Tag hinter sich.“

„Wie schrecklich, mir reichen schon acht Stunden“, sagte sie. „Sie sind wohl auch für die 35-Stunden-Woche?“ fragte ich sie – vielleicht eine Spur zu beiläufig. Jedenfalls antwortete sie nichts, schaute mich sonderbar an. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus – „Sie ... Sie haben ja eine Kellnerjacke an und, äh, überhaupt sehen Sie wie der Kellner aus!“ – „Caramba! No es posible!“ entfuhr es mir, doch als ich an mir hinunterblickte, sah ich, daß ich mich tatsächlich in einen feurigen Sohn Andalusiens – weiße Jacke, rote Bauchbinde, schwarze Hose und Stiefel – verwandelt hatte! Ohne es überlegt zu haben ging ich zum patrón und beschwerte mich in leidlichem Spanisch über die zu lange Arbeitszeit. Nach einer heftigen Auseinandersetzung warf mich der Wirt und hinaus. War mein Mitfühlen mit den Lohnabhängigen schon so intensiv, daß ich mich, ohne es zu wollen, in sie verwandelte?

Mittwoch, 5. Juli. Als erstes zum Spiegel gegangen. Hatte mich wieder in mich verwandelt. Wenn ich also zum Zelig der Entrechteten werden sollte, dann höchstens auf Teilzeitbasis.

Am Strand neben einer Blondine aus Wuppertal zu liegen gekommen. Sie heißt Elvira Meisel und ist im Einzelhandel tätig. Zum Abendessen im „Toro nero“ verabredet. Bei Rotwein und Kerzenlicht über die Verlängerung der Ladenschlußzeiten im Einzelhandel gesprochen. Elvira ist dafür. Dann wurden die Vorspeisen serviert, sie hatte Froschschenkel, ich Krabben in Knoblauchtunke. Arglos machte ich Elvira darauf aufmerksam, daß sie mit ihrer Bestellung das biologische Gleichgewicht in Bangladesch bedrohe, als ich plötzlich ein merkwürdiges Zucken in der Bauchgegend verspürte. „Durch die Ausrottung der Frösche droht eine Umweltkatastrophe, Massenarbeitslosigkeit der Fischer ...“ „Die Frösche tun mir ja auch leid“, sagte Elvira, „aber sie schmecken nun mal phantastisch.“ – „Eine sehr bequeme Haltung ist das, aber den Fröschen nützt das garnngggh!“

Sie starrte mich mit schreckgeweiteten Augen an, dann sprang sie auf und schrie: „Ein Frosch! Ein riesiger Frosch!“ Wenn sie mich doch gegen die Wand geschmissen hätte! Das war kein Märchen, sondern knallharte Realität. Vor dem Spiegel in meinem Hotelzimmer wurde mir erst in vollem Umfang klar, wie weit meine Entmenschlichung bereits fortgeschritten war.

Freitag, 7. Juli. Diesmal hat es etwas länger gedauert, wieder ich zu werden. Oder muß „ich“ „mich“ schon in Anführungszeichen setzen wie Springer einst die „DDR“? Das Leben ist verwirrend geworden. Bin „ich“ ein Frosch, der sich in „Mensch Wallraff“ verwandelt hat?

Sonntag, 9. Juli. Den ganzen Samstag im Personaltrakt verbracht und mich mit einem Spüler vom Festland angefreundet. Habe ihn in die Küche im Untergeschoß begleitet, ganz unten fühle ich mich zu Hause. Und wenn dort auch nicht die herrliche spanische Sonne scheint, so gleicht die menschliche Wärme, die diese Arbeitssklaven des internationalen Tourismus ausstrahlen, das mehr als aus. Ich muß nur aufpassen, daß ich mich nicht gleich in zwei dieser Geschundenen verwandele, so viele gibt es hier.

Montag, 10. Juli. Um 9 Uhr traf eine Gruppe Männer ein, die vom Hotelmanager mit großem Bahnhof empfangen wurden. Den Sicherheitsvorkehrungen nach zu schließen Regierungsbeamte. Auch Deutsche dabei, hörte irgendwas von einem „ministro“.

Später erfahren, daß es sich um eine EG-Konferenz zum europäischen Arbeitsmarkt handelt. Der „ministro“ ist offenbar Norbert Blüm! Muß versuchen, an ihn heranzukommen. Ansonsten keine besonderen Verwandlungen.

Dienstag, 11. Juli. Das für Blüms Suite zuständige Zimmermädchen heißt Laura, eine kaum 17jährige Inselschönheit. Wenn es mir gelingen könnte, mich in sie zu verwandeln ... Noch sträubt sich der Mann in mir – so weit bin ich noch nie gegangen. Werde sie später in ein Gespräch verwickeln, um die Lage zu peilen.

Abends: Laura ist sehr freundlich. Als sie mir von ihrer schweren Kindheit erzählt (der Vater war Fischer, die Mutter mußte fünf Thunfischbabies mit großziehen), zeigten sich die ersten Symptome der Verwandlung – als erstes „entstand“ eine weiße Schürze, dann wandelte sich meine ausgebeulte Cordjeans in einen tadellosen schwarzen Faltenrock. Laura mußte furchtbar kichern, als sie meine behaarten Beine sah. Doch auch die organische Umwandlung ließ nicht lange auf sich warten. Nach fünfzehn Minuten schaute ich in den Spiegel: ein weißes Häubchen in den schwarzen Locken, unter der Schürze eine schwellende Ahnung von erwachenden Brüsten, makellose Beine ... kurz – ein perfektes Duplikat. Nach anfänglichem Zögern hat sich Laura bereit erklärt, daß ich dem „ministro“ das Frühstück aufs Zimmer bringe. Morgen startet die „Aktion Blüm“ – mal sehen, ob ich ihm nicht den neuesten Anschlag auf den sozialen Frieden aus der Nase kitzeln kann ...

Mittwoch, 12. Juli. War das ein Tag! Um 8 Uhr als „Laura“ Frühstück serviert – zwei Eier, Toast und frischgepreßten Orangensaft. Mußte mich ziemlich zusammenreißen, daß ich nicht zur Orange wurde. „Wo soll ich stellen Frühstück?“ fragte ich den Minister, der im geblümten Morgenmantel auf dem Balkon saß. „Sie sprechen ja ganz wunderbar deutsch“, bemerkte er. „Oh, mein Vater sein Gastarbeiter in Köln, Sie kennen?“ – „Nein, ich kenne ihn leider nicht, aber wenn Sie mir sagen, wie Sie heißen, kann ich mich mal nach ihm erkundigen.“ Ich stellte ihm das Tablett auf den Tisch. „Laura del Sol.“ – „Ein sehr schöner Name, ich heiße Norbert, Norbert Blüm.“ – „Auch ein schönes Name. Ich jetzt gehen, wenn Sie brauchen etwas, Sie einfach rufen nach Laura.“ – „Ist gut, Laura.“ Wieder auf dem Flur, atme ich tief durch. Ich glaube, ich gefalle ihm.

Sehr ungewohntes Feeling. Vorsorglich den ganzen Vormittag in Lauras Nähe geblieben, um nicht von der Rolle zu fallen. Prompt werde ich in der Mittagspause auf Blüms Zimmer gerufen.

Ich klopfe und trete ein, frage, was er wünscht. – „Äh, eine ganz persönliche Frage, auf unserer Konferenz ist da nämlich eine Frage aufgetaucht, Sie können mir da vielleicht helfen.“ – „Wenn ich kann helfen!“ – „Ihr Vater arbeitet doch in Alemania, nicht? Hat er vor, bald zurückzukehren nach Spanien? Aber bitte, nehmen Sie doch Platz!“ – „Ich nix wissen.“ – „Wissen Sie, ich streite mich mit meinem spanischen Kollegen wegen dieser Frage.“ – „Wegen meinem Vater?“ – „Nein, das betrifft den Spanier im allgemeinen. Verstehen Sie“, bei diesen Worten legte er seine Hand auf mein Knie, „ich fühle mich sehr zum Spanischen hingezogen und möchte für unsere spanischen Mitbürger die denkbar günstigste Lösung ...“

Er rückte näher. „Wenn Sie wollen hören meine Meinung, mein Vater möchte bleiben in Alemania, aber er möchte 35- Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Wenn Sie können durchsetzen das ...“, flüsterte ich ihm ins Ohr.

„Wenn es nur nach mir ginge, wäre das gar kein Problem! Aber meine Kollegen im Kabinett, die bremsen meine Leidenschaft für das Soziale immerzu.“ Sein Tonfall wurde leidenschaftlich, gleichzeitig bewegte sich seine Hand Richtung Rocksaum.

„Was Sie machen da?“ – ich sprang auf und verließ mit gespielter Empörung das Zimmer. Er hat angebissen! Noch ein wenig Geduld, Laura, und du kannst ihn um den Finger wickeln ...

Donnerstag, 13. Juli. Um 8 Uhr wieder Frühstück auf die Ministersuite gebracht. Stellte Norbert das Tablett auf den Balkontisch, als er sagte: „Tut mir furchtbar leid, das mit gestern. Aber wissen Sie, die nervliche Anspannung bei so einer Konferenz.“ – „Ich wissen, schon viele Konferenzen hier.“ – „Setz dich doch Laura, ich darf doch Laura sagen? Wenn du wüßtest, wie schwierig das Leben eines Parlamentariers ist. Konferenzen, öffentliche Angriffe, kein Privatleben ...“

Ich ließ mich ins Polster sinken, Norbert sank mit, sein Kopf kam auf meiner Schulter zu liegen. „Und dann noch die ständigen Ortswechsel, man kann da keine Kontinuität aufbauen.“ Mir kamen die Tränen, der Mann hatte recht, von der Warte hatte ich das Problem noch nie betrachtet. Er schmiegte sich an meinen Busen, schluchzte „Wir sind in Wirklichkeit die Allerärmsten“ in mein frischgestärktes Schürzenoberteil. Ich spürte, wie meine Mitleidsader anschwoll, und da, schon kam es, das erste Anzeichen meiner Blümwerdung: die Nickelbrille! Es war schrecklich! Noch merkte Norbert nichts, doch als eine männliche behaarte Brust an die Stelle einer duftenden Bluse trat, blickte Norbert verwirrt auf und sah – Norbert!

Er sprang auf, fassungslos starrte er auf sein Ebenbild – „Laura, äh, was ist ...?“ – „Norbert, sammle dich, schwere Verhandlungen stehen dir bevor!“ – „Das ist doch die Höhe, ich verbitte mir Ihre Ratschläge, hinaus!“ Er versuchte mich zu packen, doch ich war schon auf den Balkon geschlüpft. Er mir nach, entschlossen, mich zu überwältigen. „Aber Norbert, gemeinsam sind wir stärker!“ rief ich ihm zu, doch da war nichts mehr zu retten. Kaum war er auch auf dem Balkon, sprang ich ins Zimmer zurück und schloß die Balkontür zu. Und so kam es, daß Norbert Blüm ausgesperrt wurde ... Ich zog mich an, übte mich ein wenig in Blümscher Rhetorik und machte mich auf den Weg zur EG- Konferenz.

Hier enden die Tagebucheintragungen Günter Wallraffs. Auch seine eigene Spur endet hier. Ob er als Minister glücklich werden kann?