Im Bus, im Bad, im Bettchen: Cassettchen!

■ Schreck laß nach: mein Kind hört Kindercassetten! Eltern hören zwangsläufig mit bei Bye Bye Teddy und Lelolei / Ein Überblick

Die einen Eltern trifft es früher, die anderen später, die meisten unvorbereitet, und fast immer ist es ein Schock: Irgendwann dudeln und dröhnen Gräßlichkeiten innerhalb der eigenen vier Wände. Dann hat nämlich das Kind die Kleinkindphase abgeschlossen und die Kindercassette entdeckt.

Wer dann pötzlich viele Stunden am Tag mit dem Fürstin- von-Gallitzin-Kinderchor unter Heribert Limberg zu tun hat, kann nocch von Glück sagen: Begleitet von Blockflöte und klingendem Spiel zwitschern Kinderkehlen die guten alten Lieder „Eia popeia, was raschelt im Stroh“ und „Kuckuck, Kuckuck“. Erschreckender sind da schon die Kinderanbiederungen, die man bei „Ikea“ mitgehen läßt und die so für sich werben: „Im Bus, im Bad, im Bettchen / hör ich gern ein Cassettchen“. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit allerdings begleitet die Kleinen bei ihrem ersten Schritt in die Welt der Medien eine alte Cassette aus dem „Pläne“-Verlag.

Obwohl „Pläne“, nach dem Fall der Mauer geradezu mittellos, sein Kindermusikprogramm an den katholischen Patmos- Verlag abgetreten hat, haben seine alten und erfolgreichen Editionen eine ganz erstaunliche Halbwertzeit.

Greifen Sie blind in den Haufen aus 100 Cassetten einer Zwölfjährigen oder stöbern Sie in Ihrer lokalen Leihbibliothek — es werden Ihnen Hörbeispiele wie diese zu Ohren kommen: „Hänschen klein, armes Schwein, muß doch in die Schule rein.“ Dort, na was wohl, stürzt vor dem Fenster ein Starfighter ab, worauf der Lehrer äußert: „Für den Preis / von solchem Scheiß / könnte man drei Schulen baun!“ Das alles geschmettert von dem seinerzeit (1974!) Erfolgsduo Christiane Knauf und Fredrik Vahle. Wenn das zarte Kind dann erstmals mitschmettert: „Im Fischteich von Direktor Braun / da wolln wir die

2,4 Milliarden Kindercassetten hat das statistische Durchschnittskind, und es werden immer noch mehrFoto: Katja Heddinga

dicksten Fische klaun!“ — kommt Freude auf in der Kleinfamilie.

Ulrike Weiß und Jens-Peter Müller kennen das Problem. Sie sind nämlich nicht nur Produzenten von Kindermusik, sondern auch Eltern von zwei Kindern (5 und 8). Wenn auf ihrem Bauernhof in Grasberg bei Bremen eine neue Musik geboren wird, denken sie daran, „daß die Musik auch in die Ohren der Eltern reingeht.“ Locker zwanzig mal am Tag dieselbe Cassette ist, das haben sie am eigenen Leib erfahren, keine Ausnahme.

Weiß & Müller sind die Köpfe von „Kunterbunt aus Grasberg“, die letztes Jahr für ihre dritte Kindermusikproduktion „Schatzsuche“ mit dem „Preis der Schallplattenkritik 3/92“ geehrt wurden. Mit Titeln wie

hierhin bitte

das Foto von dem

Mädchen vorm Ständer

mit Musikcassetten

„Drei Schweine saßen an der Leine“ und „Mein Herz das ist ein Trommeltier“ haben sie sich in die Herzen der Kinder gespielt; für die Eltern ist Kunterbunts Musik vergleichsweise Balsam in den Ohren.

Es ist, wie Jens-Peter Müller weiß, recht leicht, das Herz der Kinder zu erreichen. „Kinder sind total offen“, hat er festgestellt, mit Musik kann man ihnen ganz leicht „was beipuhlen“. Christliche Musikverlage wie „Menschenkinder“ in Münster wissen das am besten, wenn sie Kindergärten und Kindergottesdienste mit Gott-sagt-ja-zu-dir- plus-E-Gitarre überschwemmen. Unter dem Terminus „Sacro-Pop“ laufen solche Scheußlichkeiten in der Szene.

Müller selbst setzt mit dem Kleinverlag „eres“ in Lilienthal

auf Qualität. Die Musik leiht er sich gern bei bekannten Traditionals: What shall we do with the drunken sailor oder Alouette. Auch schottische, finnische und erst recht ostfriesische Tänze gehen schnell und leicht ins Blut.

Das Covern ist auch das Erfolgsrezept der Erfolgreichen der Branche, in der Große wie Ariola eine schnelle Mark mit Kinder-Pop machen. Das ist, was man in der Drogerie für sechs Mark ersteht: „Kinder-Hitparaden“, „total verrückt“. Hier werden Ohrwürmer, die allen Kindern aus dem Dudelfunk bekannt sind, mit „aktuellen“ Texten versehen wie der Softreggae Sweat ala la la la long (Im Bagger-Bagger-Matsch macht es so schön platsch“), wie I'm walking (Mein Walkman“) oder gar der

gute alte Dylan-Song Knockin' on heaven's door („Bye, bye, Teddy, auf Wiedersehn“) und die Rumreklame Barcari Feeling („Endlich Sonne“).

Die Schlagermusik ist hochprofessionell produziert, mit allem elektronischen Gedöns versorgt, Jungs machen die Lead- Stimme, Mädchen den Chorus, die Kinder dürfen stimmlich alle Affigkeiten des Showbiz kopieren. Stars wie Rolf Zuckowski („Radio Lollipop“, „Schulweg Hitparade“ bei Polydor) haben TV-Auftritte und Live-Konzerte vor zweitausend Kindern.

Gegen diese in sechsstelliger Zahl auf den Markt geworfenen Billigcassetten kommt „Kunterbunt“ mit 5000er Auflagen nicht entfernt an. Was Müller unter guter Kindermusik versteht, verdeutlicht er an seinem großen Vorbild, dem (Ost-) Berliner Liedermacher Gerhard Schöne, der heute noch von jugendlichen Ostmassen umjubelt wird („Jule wäscht sich nie“): gehaltvolle, keinesfalls platte Texte und hochprofessionelle Musiker, die Kindermusik ebenso ernst nehmen wie die Musik der Erwachsenen — so ist es gut, so soll es sein.

Wenn dann verzweifelte Eltern aus dem Urlaub in Südfrankreich in Grasberg anrufen, weil die „Lelolei“-Cassette weg ist, mithin die lange Rückreise im Auto undenkbar — dann ist das doch ein Erfolg. Kinder brauchen Lieder. Burkhard Straßmann