Retter in der Fernsehnot

■ RTL als moralische Anstalt? Geht es nach einer DFG-Studie, steigert "Notruf" die Hilfsbereitschaft

Auch wenn sich gleich die fernsehmüden Äuglein ungläubig verdrehen: Die Reality-Show „Notruf“ (RTL) scheint die Hilfsbereitschaft des Konsumenten zu steigern. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine empirische Studie, die an der Universität Mannheim im Rahmen des DFG-Projekts „Medien: Simulation und Wirklichkeit“ erstellt worden ist. „Hochsignifikant“, heißt es in der Auswertung, sei die Zunahme der Hilfsbereitschaft der Testpersonen, nachdem sie mit „Notruf“- Beiträgen konfrontiert worden waren.

Freilich nahm die Hilfsbereitschaft nur in den Fällen zu, die inhaltlich dem Gesehenen ähnlich waren. Nach einem Autounfall- Film stieg die Zustimmung zu dem Satz: „Wenn ich auf der Autobahn ein Auto sehe, das mit einer Panne liegengeblieben ist, überlege ich sofort, ob ich helfen kann.“ Auch wollten am Unfallort weniger Versuchsteilnehmer die Arbeit allein Fachleuten überlassen. Am stärksten nahm die Hilfsbereitschaft bei den Testpersonen zu, die den Film mit den schlimmsten Verletzungen gesehen hatten.

Mund-Beatmung geht vielen zuweit

Wer dagegen bei seiner Vorführung um das moralische „Fazit“ im Kommentar herumgekommen war, dessen Hilfsbereitschaft nahm sogar leicht ab. Keine positive Wirkung war zu verzeichnen, wenn Intimbereiche berührt wurden: Bei Mund-zu-Nase-Beatmung stieg der Wille zur Hilfe nicht.

Für das „Rezeptionsexperiment ,Notruf‘“ machten die Mannheimer Forscher um den Medienwissenschaftler Dr. Jürgen Grimm umfassende Tests. In ihrer Wirkungsanalyse wurden die Probanden 48 Stunden vor und kurz nachdem sie die Beiträge gesehen hatten zu Hilfs- und Spendenbereitschaft, zu Akzeptanz von Rettungssituationen, Ängstlichkeit, Mitgefühl u.a. befragt. Parallel zu den Vorführungen wurden physiologische Indikatoren erhoben wie Hautleitfähigkeit der Herzfrequenz.

Die 105 Versuchsgucker sahen nicht alle dasselbe Unglück. Die drei ausgesuchten Beiträge (Flutgraben-Unfall, Autounfall und Brand) wurden unterschiedlich kombiniert. Anschließend sollte jeder sein Filmerlebnis Wortpaaren zuordnen wie: spannend/langweilig oder angenehm/unangenehm. Der Brandfilm, der schlimmste Verbrennungen in Großaufnahme zeigte, erzeugte nicht nur die unangenehmsten Gefühle, sondern auch die meiste Spannung. „Extreme Opferdarstellungen mit einem negativen Emotionswert führen also nicht automatisch zum Desinteresse der Zuschauer; im Gegenteil, sie verstärken den Spannungswert und den Eindruck ,realistischer‘ Darstellung“, interpretierten die Forscher das Ergebnis.

Die Wirkung des „Fazits“ erwies sich als die ambivalenteste: Es dämpfte zwar die Spannung, doch empfanden die Testpersonen, die mit einem „kommentierenden Fazit“ konfrontiert wurden, das Gezeigte weniger beunruhigend als die, die es nicht zu hören bekamen. Außerdem hatte es den deutlichsten Einfluß auf die Hilfsbereitschaft.

Die Wirkungsanalyse ergab noch weitere Überraschungen. Die Testpersonen schätzten ihre eigenen Streßreaktionen, die bei einem Unfall zu erwarten wären, nach dem Anschauen der „Notruf“-Filme geringer ein als zuvor. Ob diese Wirkung bei einem realen Unglück anhielt, wurde allerdings nicht überprüft.

Obwohl die Studie voyeuristischen Reality-TV-Produkten positive Effekte zuschreibt, haben Kommerzsender dennoch noch lange keinen Grund, sich als moralische Anstalt verkaufen zu können. Der Haken der Untersuchung liegt nicht nur in der grundsätzlichen Frage, ob man „Wirkungen“ im moralischen Bereich überhaupt auf diese Weise „abfragen“ kann. Auch die Dauer der Wirkungen ist überhaupt nicht überprüft worden. So bleibt ungewiß, ob sie nach längerem „Notruf“-Konsum oder größerem Abstand zur Sendung nicht einfach verpuffen... [also besser gleich abschalten, und wir sind alle hilfsbereite, edle, bessere menschen, d. s-in]. Sonja Striegl