■ Lauschangriff: Die Debatte vom Kopf auf die Beine stellen
: Traditionelle Mittel reichen nicht aus

Die Sache droht, wir sind ja in Deutschland, wieder mal zur reinen Kopfgeburt zu werden und ist insofern möglicherweise schon im Ansatz dazu verurteilt, im Gepluster von Definitions- und Benennungsfragen und in der Zuweisung politischer Schuld unterzugehen. „Lauschangriff“, großer (mit Fernsehkameras bis hinein ins intimste Eckchen des Schlafzimmers) oder kleiner (mit Verbot des Spähens in der Privatwohnung), wird mit Sicherheit zum Wahlkampf-Hit. Der Sache dienlich ist das nicht, und was man damit bekämpfen will und kann, wird dadurch im wesentlichen auch nicht klarer.

Im Gegenteil: im Gerangel um die Unantastbarkeit des Artikels 13 Grundgesetz („Die Wohnung ist unverletzlich“) und den Erfordernissen des Kampfs gegen die organisierten Kriminellen, derer man – angeblich oder tatsächlich – sonst nicht Herr werden kann, wird das Pferd längst vom Schwanz aufgezäumt. Statt sich zuerst einmal klarzumachen, wie die Situation ist, welche Gefahr von den mit dem Lauschen anzugreifenden Personen und Gruppen für wen oder was ausgeht, wird mit Vorliebe die andere Seite verdächtigt: Sie wolle die Verfassung nach dem Asyl- um ein weiteres elementares Recht mindern, so die eine Seite, oder, so die Gegenseite, man sei der Gefahr gegenüber unsensibel, leiste gar der Mafia Vorschub.

Man sollte die vorgeschlagenen polizeilichen und gerichtlichen Hilfsmittel nicht vorschnell in Bausch und Bogen als Ausflucht der Erfolglosen, als Aufbau des Überwachungsstaates oder als bloße Zwickzange im Wahlkampf abtun. Die Sache ist schon ernster, als die meisten von uns glauben, und jedenfalls ernster, als daß sie rein affirmativ mit einem „Der Artikel 13 wird nicht angetastet“ erledigt werden könnte.

Die Grundfrage ist zunächst einmal: Gibt es derzeit Situationen, die die Forderung nach Aufhebung eines so elementaren Grundrechts wie der Unverletzlichkeit der Wohnung überhaupt auch nur diskussionswert erscheinen lassen? Welche Bedrohung steht hier vor der Tür?

Von seiten der Befürworter des Lauschangriffs kommen in der Regel beunruhigende Zahlen über die Entwicklung der Kriminalität, insbesondere jener der organisierten Art, und über die Unmöglichkeit, diese mit herkömmlichen Mitteln zu bekämpfen. Gegner widersprechen dem mit dem Argument, daß es sich hier weder um eine neue noch um eine qualitativ andere Art als die der Bandenkriminalität handele, die es seit jeher gebe und die auch schon seit jeher als Straftat verfolgt werden könne.

Beide Argumente haben ihre Schwächen: In vielen Fällen, etwa bei Gruppen, die lediglich durch Vernetzung vorhandener und polizeilich meist auch schon hinreichend erfaßter Banden entstehen, handelt es sich tatsächlich lediglich um eine quantitative Ausweitung und nicht um einen qualitativen Sprung. Hier reichen, einen effizienten Polizeiapparat vorausgesetzt, in der Regel die traditionellen Mittel aus. Lauschangriffe und derlei brächten hier sicher arbeitstechnische und personelle Erleichterungen, unabdingbar scheinen sie nicht.

Andererseits jedoch gibt es ohne allen Zweifel heute eine neue, gefährlichere und mit zumindest den in Deutschland zugelassenen Mitteln nur schwer oder gar nicht faßbare Kriminalität auf hohem technischen und organisatorischem Niveau. Gefährlich in jeder Hinsicht – von ihrem „Handelsgut“ her, das längst über geklaute Autos, Ikonen und Drogen hinausgeht und mittlerweile auch die ganze Welt bedrohende Ware wie Atomwaffenteile, chemische und bakteriologische Waffen und ähnliches umfaßt, wie auch aufgrund ihrer nationalen und internationalen Einflußmöglichkeiten. Die Gelder, die diese Gruppen und einzelne Bosse verdienen, sind so immens, daß sie nicht mehr nur lokale Administratoren und Politiker schmieren, sondern die Politik ganzer Länder konditionieren können.

Wir brauchen ja nur auf das Beispiel unseres EG-Partners Italien hinzuweisen: Mehr als ein Drittel aller Staatsschuldscheine sind selbst nach Aussage der Regierungspolitiker, die die Gefahr gerne herunterspielen, und der Nationalbank in der Hand mafioser und anderer Unterweltgruppen gelandet – eine versteckte Drohung, die Obligationen auf den Markt zu werfen, wonach ihr Wert steil abstürzt und das Haushaltsdefizit sofort um Milliarden zunimmt, genügt, um jede Regierung gefügig zu machen. Das bisher einzige Mal, als Italien gegen diese Art von Erpressung vorzugehen gewagt hat – 1992 mit dem Geldwäschegesetz, das übrigens gegen den harten Widerstand des schlauen Finanzministers Guido Carli durchgesetzt wurde –, zeigte sofort, wie ernst es die Unterweltler meinen. Der Abzug von mehr als 250 Milliarden Dollar – und nicht die im Vergleich zu anderen Ländern keineswegs verheerenden Wirtschaftseinbußen – haben zum senkrechten Absturz der Lira geführt. Und vielleicht ist die unterderhand in Expertenkreisen bereits zirkulierende Annahme nicht ganz von der Hand zu weisen, der entsprechende Gesetzentwurf komme in Deutschland vor allem deshalb nicht voran, weil der Großteil der aus Italien abgezogenen Gelder derzeit vorwiegend in Deutschland zirkuliert. Hier wird die Gefahr, die von solchen Gruppen auf höchsten Finanzniveau kommt, auch für die Demokratie deutlich.

Mit der Leugnung einer neuen Qualität des Verbrechens kommt man also wohl nicht voran. Eine andere Frage ist, ob man dem mit elektronischen Spähern, mit Mikrofonen im Lampenschirm und Minikameras im Schlafgemach beikommen kann. Einige Argumente dafür gibt es allerdings.

So etwa haben neuere Erkenntnisse, die aus Berichten von Aussteigern gewonnen wurden, gezeigt, wie schnell innerhalb der Unterwelt Allianzen wechseln. Das traditionelle zeitraubende Hinterher-Recherchieren reicht, wenn es um die Abwehr von Gefahr geht oder das rechtzeitige Zugreifen im Falle bereits erfolgter Taten geht, oft nicht mehr aus. Überdies sind viele der auf deutschen Boden arbeitenden ethnisch festgefügten Gruppen nicht durch Einschleusung von V-Leuten zu knacken. Hier kann möglicherweise wirklich nur eine relativ lückenlose Überwachung der mutmaßlichen Oberbosse helfen. Auch die großen Geldflüsse, an denen viele Kritiker des Lauschangriffs lieber ansetzen würden, sind ohne Mithören und Mitsehen kaum aufzuspüren. Bis die Banküberprüfung abgeschlossen ist, sind Boß und Gelder längst im Fernen Osten oder Süden, während rechtzeitige Erkenntnisse über seine Kontakte und Absichten hier noch Eingriffe ermöglichen könnten.

Das alles sind Argumente, mehr nicht. Wir sollten sie wenigstens wahrnehmen und werten und erst dann uns eine Meinung darüber bilden, ob uns die Unverletzlichkeit der Wohnung tatsächlich so viel wert ist, daß wir das weitere Anwachsen der Macht unterweltlerischer Gruppen in Kauf nehmen. Alternative, wirklich probate Mittel gegen diese Gefahr sind bisher nicht in Sicht.

Vielleicht liegt einer der möglichen Auswege aus der festgefahrenen Debatte an ganz anderer Stelle: Wir müssen uns vor allem Gedanken darüber machen, wie wir den Lauschangriff, wenn er denn kommt, kontrollierbar machen können und wie wir – was ja nicht dasselbe ist – sicherstellen, daß er tatsächlich kontrolliert wird. Dies und harte Strafen bei Mißbrauch einmal durchgesetzt, müßte uns vor der ganzen Sache weniger bang sein. Werner Raith