„Deutsche reagieren, als sei Krieg“

Im türkischen Antalya haben die Anschläge auf Touristen insbesondere den einheimischen Mittelstand getroffen: Cafés, Restaurants und Geschäfte haben zum Teil hohe Verluste  ■ Von Jürgen P. Hoffmann

„Noch zwei, drei Wochen und ich muß meinen Laden zumachen.“ Murat Canik besitzt ein kleines Teppichgeschäft in Kemer am türkischen Mittelmeer. Dem Kaufmann fehlen die Kunden. Und nicht nur ihm. Fast jedes zweite Geschäft in dem kleinen Städtchen unweit von Antalya ist von der Pleite bedroht. Der Grund: nach den Bombenanschlägen der militanten kurdischen Separatistenpartei PKK Ende Juni und Anfang Juli gegen Touristen und den Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, das auf das „erhöhte Sicherheitsrisiko“ an der türkischen Südküste hingewiesen hatte, machen vor allem deutsche Familien statt an der Südküste der Türkei lieber woanders Urlaub – fliegen nach Griechenland oder Spanien. Mehr als 100.000 Bundesbürger, so schätzt man in der Branche, haben in den vergangenen Wochen umgebucht oder storniert. Sie fehlen der vom Massentourismus lebenden Region als Devisenbringer. Hotels, Clubs, Cafés, Restaurants und Souvenirläden leiden unter Umsatzrückgängen bis zu 60 Prozent. Die Folge: Geschäftsaufgaben.

„Es macht keinen Spaß mehr“, sagt Ibrahim, der auf dem „Dönermarkt“ in Antalya im Sommer normalerweise 200 bis 250 Lederartikel monatlich verkauft. In den letzten vier Wochen waren es ganze 80. „Die Deutschen haben reagiert, als sei bei uns plötzlich Krieg“, ärgert er sich über die Hysterie, die in der fernen Bundesrepublik ausgebrochen zu sein scheint. Dabei herrscht vor Ort, in der Provinz Antalya, wo die türkische Regierung in den vergangenen Jahren rund drei Milliarden Dollar in den Ausbau der Infrastruktur investiert hat, Ruhe und Urlaubsstimmung. „Angst hat hier keiner“, sagt Friedrich Wilhelm von Osterroth, Regionschef der TUI in Antalya, von dessen Büro nur 250 Meter entfernt die Bombe hochging, die 23 Urlauber verletzte, „die haben nur die Leute in Deutschland, die überhaupt nicht wissen, wie es in der Türkei aussieht.“ Touristen, die zum Zeitpunkt der Anschläge im Land gewesen seien, hätten erst nach den reißerischen Schlagzeilen der deutschen Boulevardpresse Panik bekommen und um vorzeitige Abreise gebeten.

Im „Iberotel Kiris World“ sind 60 Prozent aller Betten leer. Normalerweise bekommt man zu dieser Jahreszeit in dem 5-Sterne-Hotel keinen Platz. Auch vor den Bombenanschlägen lag die Auslastung bei fast 100 Prozent. Ähnlich ist die Situation im Club Robinson Camyuva. „Wir haben deutlich weniger Gäste, die Zahl unserer Service-Mitarbeiter und Animateure ist aber nicht verringert worden“, berichtet TUI-Reiseleiterin Susanna aus Hamburg, „und deswegen genießen die, die jetzt hier Urlaub machen, es ganz besonders.“ Was sie nicht sagt: Die türkischen Mitarbeiter kosten den Club auch nicht viel mehr als ein Trinkgeld.

Zwar versucht die TUI mit Sonderangeboten, die teilweise um die Hälfte unter den Normalpreisen liegen, den Umsatzeinbruch zu kompensieren. Aber der Erfolg ist mäßig. „Am stärksten sind unsere teuren Produkte betroffen“, gesteht von Osterroth die katastrophalen Auswirkungen der Anschläge auf die Belegungszahlen der teuren Luxusherbergen ein. „Die Deutschen haben einfach überreagiert“, sagt er. Im Gegensatz aber zu den Kleinbetrieben und dem Mittelstand in der Region können die großen Reiseveranstalter wie NUR oder TUI und die internationalen Hotelketten wie Sheraton, Club Med oder Club Robinson derartige Geschäftseinbrüche wegstecken. Getroffen haben die Kurden mit ihren Anschlägen in erster Linie die kleinen türkischen Geschäftsleute, Angestellten und Arbeiter, den Kebab-Verkäufer und den Kellner, den Taxifahrer und das Stubenmädchen. So mancher türkische Arbeiter und Angestellte spekuliert denn auch offen, ob wirklich die PKK hinter den Anschlägen stehe: Ihnen scheint es einleuchtender, daß ein Nachbarland, das von den Umbuchungen besonders profitiert hat, die Urlauberängste vor der Türkei schüren möchte: Griechenland.

Dabei gehört, da sind sich die Experten einig, die Südküste der Türkei spätestens nach den jüngsten Vorkommnissen zu den sichersten Urlaubsgebieten der Welt. Polizisten in Zivil wachen in den Touristenzentren, an Stränden und in Restaurants. Und auch die Hotels haben die Zahl ihrer Sicherheitskräfte verstärkt. Die Urlauber merken davon nicht viel, denn es wird in erster Linie verdeckt kontrolliert. Militärs sieht man nirgends. Der Grund: Türkische Regierung und Tourismusbranche möchten mit allen Mitteln das Image eines Polizeistaates loswerden. „Überall in der Welt gibt es Anschläge, und die Menschen fahren trotzdem hin“, macht Cüneyt Kuru, Hoteldirektor des „Magic Life“, in Zweckoptimismus. „In Paris, Rom, Kairo oder Miami passiert viel mehr und keiner regt sich auf“, sagt Ibrahim aus der Galerie Aspendos, deren Umsatz im Juli und August um knapp die Hälfte gesunken ist. Einige Ladenbesitzer in Kemer und Antalya machen aus ihrer Enttäuschung kein Hehl: „Wenn man bedenkt, wie ihr in Deutschland mit unseren Landsleuten zur Zeit umgeht“, erinnert einer an die Anschläge von Rostock, Mölln und Solingen, „dann hätten wir etwas mehr Unterstützung erwartet. Warum rennen 100.000 Deutsche sofort woanders hin, obwohl hier doch kaum etwas geschehen ist?“ Die Beschwichtigungen von Tourismusminister Abdülkadir Ates („Wir haben alles im Griff“) nehmen die Ladenbesitzer allerdings nicht sehr ernst. Ibrahim: „Gegen Terroristen kann man nichts machen. Wenn die eine Bombe werfen wollen, dann tun sie es auch.“ Auch die PKK wisse, daß man einem devisenabhängigen Land am schmerzhaftesten schaden könne, indem man es an dersensiblen Stelle Tourismus trifft. Schließlich haben das die islamischen Fundamentalisten in Ägypten vorgemacht. Dort ist der Fremdenverkehr nach einer Serie von Morden das Reiseaufkommen allein beim Reiseveranstalter TUI um 40 Prozent zurückgegangen. In der Türkei bringt der Fremdenverkehr rund 30 Prozent der jährlichen 14 Milliarden Dollar Devisen.

In der Provinz Antalya hofft man, daß die Reiseweltmeister aus dem Norden Europas die jüngsten Unruhen bis spätestens Weihnachten vergessen haben werden. Dann nämlich entscheidet ein Großteil der deutschen Urlauber, wohin es ihn 1994 ziehen wird. Nachdem die für 1993 prognostizierte Zahl von zwei Millionen Chartergästen allein aus Deutschland und Österreich kaum erreicht werden dürfte, käme ein weiteres Baisse-Jahr einer Katastrophe gleich. „Im nächsten Jahr werden sich einige Stammurlaubsgäste wundern“, prophezeit Sascha, der im kleinen Teppichgeschäft „Paselis Hali“ in Kemer arbeitet, „dann existiert hier nur noch jeder zweite Laden.“

Ob ein Angebot des Bürgermeisters von Antalya hilft, den Sympathieverlust seiner Region bei deutschen Urlaubern wieder wettzumachen? Hasan Subasi hat alle Opfer der Anschläge eingeladen, nächstes Jahr wiederzukommen: „Selbstverständlich auf unsere Kosten.“