Viele liebe Grüße aus aller Welt

■ Eine deutsche Manie: Das Schreiben von Ansichtskarten als feierliche Pflicht

„Wenn Du reisest“, schrieb Tucholsky Ende der zwanziger Jahre in einer Satire über das Reisen, „so sei das erste, was Du nach jeder Ankunft in einem fremden Ort zu tun hast: Ansichtskarten zu schreiben.“ Und er fährt fort: „Schreib unleserlich, das läßt auf gute Laune schließen.“ Auch der Britische Standard nahm die Ansichtskartenmanie der Deutschen aufs Korn: „Der reisende Teutone“, so berichtet er schon um die Jahrhundertwende, „scheint es als seine feierliche Pflicht zu betrachten, von jeder Station seiner Reise eine Postkarte zu schicken. Seine erste Sorge, nachdem er ein einigermaßen bemerkenswertes Ziel erreicht hat, ist es, ein Gasthaus zu finden, wo er abwechselnd sein Bier trinkt und Postkarten adressiert.“

Mit Beginn der Urlaubszeit haben sie wieder Hochkonjunktur: die Ansichtspostkarten. Zu den beliebtesten Motiven zählen die Städte-, Straßen und Landschaftsdarstellungen und selbstverständlich die Sehenswürdigkeiten vor Ort. Aber nicht nur geschichtsträchtige Gebäude und Denkmäler werden im Welt-Postkarten- Format 105 mm zu 148 mm abgebildet. Neben den historischen Stadtansichten glänzen moderne Errungenschaften wie Flughäfen, Wolkenkratzer und Fernsehtürme auf den Colorkarten, die im Vierfarb-Offsetdruck hergestellt werden.

Als Erfinder der Ansichtskarte gilt der Hofbuchdrucker und Druckereibesitzer August Schwartz aus Oldenburg, der am 16. Juli 1870 eine der gerade eingeführten Correspondenzkarten bedruckte. Wie so häufig bei Erfindungen war der Anlaß ein kriegerischer, nämlich die Mobilmachung Preußens gegen Frankreich, die König Wilhelm I. aufgrund der drohenden Kriegserklärung durch Frankreich angeordnet hatte. Um seiner Sympathie für diese Maßnahme Ausdruck zu verleihen, ließ Schwartz einige Correspondenzkarten auf der Anschriftenseite mit einem Bild bedrucken, das einen Soldaten beim Laden einer Kanone zeigte. Nur zehn Tage vorher hatte die preußische Postverwaltung die Einführung der ersten Postkarte beschlossen. Mit Erfolg hatte sie sich bis zu diesem Zeitpunkt gegen die Correspondenzkarte gesträubt, da sie Gebühreneinnahmen fürchtete. Auch stand die Sorge im Vordergrund, daß das Dienstpersonal, Kinder oder gar der Postbote Einblick in die intimen Angelegenheiten der Absender nehmen könne, und man befürchtete die Verbreitung von „Obszönitäten und anderen Mißhelligkeiten“. Die Indiskretion Unbefugter soll ein Absender aus Braunlage im Jahre 1908 so vereitelt haben: Für jedermann lesbar schrieb er die Grüße an seine Geliebte. Mit der Briefmarke überklebte er den folgenden Text, den er in winzigen Buchstaben geschrieben hatte: „Im Wald hinter der Quelle, da zieh ich Dir die Kleider aus, mein herzallerliebster Augenschmaus. Komm' bitte Donnerstag um 5 Uhr.“

Die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg gelten als das Goldene Zeitalter der Ansichtskarte. Vor allem die Bildungs- und Bäderreisen des mittelständischen Bürgertums verhalfen ihr zu wachsender Popularität, und das Verschicken einer Ansichtskarte wurde zu einer obligatorischen Statushandlung. Allein im Jahre 1899 verschickten Ausflügler vom Harzer Brockenhaus, einem beliebten Ausflugsziel, 808.000 Ansichtskarten. Einhergehend mit der wachsenden Popularität entstand ein neuer Industriezweig, dessen Produkte schnell in alle Welt exportiert wurden. Die Bildpostkarte wurde zur Massenware.

Ob im Kurbad, im Gebirge, an der See oder im Ausland – die Ansichtskarte läßt Freunde, Verwandte und Bekannte wissen, wo wir gerade sind. Anders als im Brief kommt es dabei weniger auf den Inhalt an, denn schon allein aus Platzgründen beschränken wir uns auf Grüße, das Wetter und unsere eigene, meist positive Befindlichkeit.

Trotz Einführung des Telefons und anderer moderner Kommunikationsmittel hat die Ansichtskarte kaum an Popularität verloren.

In ihren Motiven spiegelt sich unser Zeitalter der grenzenlosen Mobilität wider. Je weiter entfernt und je spektakulärer die Umgebung, desto stärker ist das Signal nach außen. Wenn man beispielsweise vor zwanzig Jahren aus dem Ruhrgebiet nach Bremen reiste, dann signalisierte man nach Hause: Seht mal, bin ich nicht toll? Ich bin hier in Bremen, dieser märchenhaften Stadt. Und man schickte dann natürlich eine Ansichtskarte mit den Bremer Stadtmusikanten nach Hause. Was vor zwanzig Jahren für Bremen galt, gilt heute, im Zeitalter der uneingeschränkten Mobilität, für Ziele wie den Südpol und Australien. Mit dem Verschicken setzte auch das Sammeln von Ansichtskarten ein, das in Deutschland nach dem Briefmarken- und Münzensammeln zu den beliebtesten Hobbies zählt. Motive aus aller Welt, aber auch Sonderformen der Postkarte wie Leporellos, Klappkarten, Effektkarten, 3D-Karten oder Feldpostkarten weckten und wecken die Sammlerleidenschaft. Die größte Ansichtskarte? Sie traf am 9. Dezember 1987 zur 750-Jahr- Feier beim Berliner Senat ein, kam aus Iserlohn im Sauerland und maß 320 cm x 230 cm. 12.000 Iserlohner, die zur gleichen Zeit das 750. Jubiläum ihrer Stadt feierten, hatten sie unterschrieben und den 28 Kilogramm schweren Gruß ordnungsgemäß für 33,40 Mark bei ihrer Hauptpost aufgegeben. Elke Hughes