Rum macht schnelle Beine

Colin Jackson gewinnt mit Weltrekord die 110-Meter-Hürden, Frankie Fredericks die 200 Meter, und die Amerikaner laufen nur hinterher  ■ Aus Stuttgart Cornelia Heim

Tony Dees kauert im Zielraum auf Bahn vier, vergräbt seinen Kopf in den Händen, verharrt ohne jede Regung – minutenlang. So erbarmungslos kann Sport sein. Als letzter ist der Olympiazweite aus Florida nach 110 Metern mit Hürden ins Ziel gekommen. Der 30jährige Sozialarbeiter ist am Ende, ein Häuflein Elend wie die Junkies von Miami Beach. Ein Bild mit Symbolcharakter: Die erfolgsgewohnten US-Sprinter sind am Boden, Staffelsiege in Stuttgart ein schwacher Trost für die Schmach in den Einzelrennen.

Der Pulk der Fotografen folgt anderen: Colin Jackson, der mit 12,91 Sekunden soeben einen Weltrekord aufgestellt hat, und Vizeweltmeister Tony Jarrett. Die beiden Briten schwenken den Union Jack, und in den Katakomben des Gottlieb-Daimler-Stadions vollführt ein korpulenter, graubärtiger Mann Luftsprünge, als sei er Gast einer karibischen Beachparty: „Wieder sind die Amerikaner geschlagen!“ Um das antiamerikanische Tänzchen zu verstehen, muß man wissen: Herbert Elliott kommt nicht nur aus Jamaika, sondern ist auch der Arzt von Merlene Ottey. Jener Lady, die ihre Silbermedaille über 100 Meter in die Ecke pfefferte, weil sie sich von der Amerikanerin Gail Devers um Gold betrogen fühlte und erst seit ihrem Sieg über 200 Meter wieder lachen kann.

Die Amerikaner haben in ihrer ureigensten Domäne, dem Männersprint, in dem jahrzehntelang nur die Frage spannend war, welcher US-Boy gewinnt, nicht mehr allzuviel zu lachen – mit Ausnahme der 4 x 100-Meter-Staffel, die im Halbfinale am Samstag mit einem Weltrekord (37,40 Sekunden) zumindest als Mannschaft brillierte. Aber: Linford Christie schlug Carl Lewis über 100 Meter, Colin Jackson Tony Dees über 110-Meter-Hürden, und Superstar Carl Lewis mußte über 200 Meter nicht nur dem zurückhaltenden Namibianer Frankie Fredericks den Vortritt lassen, sondern auch dem bulligen John Regis im Trikot der Briten. Mike Marsh, der Olympiasieger, mußte sich gar mit Platz vier begnügen. Die US-Stars sind bescheiden geworden. Großmaul Carl Lewis schlägt in Stuttgart leisere Töne an: Die schwierigsten Momente seiner Laufbahn habe er hier und im Vorfeld erlebt.

„Ich mag die Amerikaner, aber sie tun immer so, als ob sie die Größten wären“, plappert sich unterdessen Herbert Elliott den Frust der bisher Zu-kurz-Gekommenen von der Seele: „Deshalb ist es so gut, wenn andere besser sind.“ Besser präsentierten sich die britischen Sprinter bei dieser WM. Ja, sogar derart überraschend stark, daß sich ein österreichischer Journalist doch gleich beim britischen Teamarzt nach dem „Geheimnis“ des Erfolgs erkundigte. „An den Erfolgen ist absolut nichts suspekt.“ Dr. Malcolm Brown, den ein Schildchen mit der Aufschrift „Doping“ passenderweise als Sachkundigen für Urinfragen ausweist, reagiert für einen Briten, denen der Ruf von Höflichkeit und Diplomatie vorauseilt, überraschend schroff. Ausgerechnet ein Reporter aus der Alpenrepublik, in der man unlängst Sprint-As Andreas Berger des Dopings überführte, wagt es, die Gewissensfrage zu stellen: „Wie hältst Du's denn mit Doping?“

Unser Onkel Doktor aus der Karibik weiß Rat. Die siegreichen Briten seien eben auf Jamaika geboren, einer Insel, auf der schnelle Beine wüchsen: „Der jamaikanische Rum, unsere Mangos, der Strand, die Palmen und das Meer machen Linford und Colin so stark.“ Immerhin, Christie und Jackson, privat die besten Freunde, teilen im Athletendorf ein Zimmer und „haben Jamaika in den Knochen“. Aus der Perspektive von Doc Elliott ist es da nur ein kleiner Schönheitsfehler, wenn Weltrekordhalter Jackson außer der britischen nur noch die walisische Flagge schwenkt. Vielleicht hat er ja mit Jamaika-Rum gefeiert.

Carl Lewis errang erstmals in zehn Jahren bei einem internationalen Wettbewerb keine einzige Goldmedaille. Auch für den erfolgreichsten Athleten aller Zeiten ist noch kein Jungbrunnen gefunden worden. Das Ende einer einzigartigen Karriere? Noch im Hinausgehen verspricht der 32jährige trotzig: „Ihr könnt mich alle abschreiben, umso schöner wird für mich das Comeback.“ Er hat soviel erreicht, daß er auch in der Niederlage den Humor nicht verliert: „Ich baue gerade ein Haus. Da stehen noch keine Möbel drin. Und weil Linford und Frankie mich mit ihren Siegen arm gemacht haben, muß ich weiterlaufen, um mir Möbel kaufen zu können.“