Inszenierte Leibeigenschaft des Seins

Eine Ausstellung im Frankfurter Kunstverein zeigt „Das Bild des Körpers“  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

In zivilisierter Gesellschaft hatte die Zurschaustellung des nackten Körpers immer etwas Anrüchiges, wenn nicht gar Skandalöses. Im Ghetto des Erotik-Shops schon aus Prinzip übersehen und in der Werbung aggressiv vermarktet, gibt es den Körper öffentlich immer nur als ästhetisch zugerichteten oder athletisch überzüchteten Ausnahmezustand bis hin zur pornographischen Benutzeroberfläche. Kein Wunder also, daß die visuellen Künste einen Gutteil ihrer emanzipatorischen Energie darauf verwendeten, den Körper vom Zwang solcher Codierungen zu befreien.

Ein Bild wie Manets „Frühstück im Grünen“ aus dem Jahre 1863 verweigerte sich bewußt der antiken Gestik und ihrem Zierat, dem Euphemismus mythologischer Titel und Themen, die im 19. Jahrhundert die Nacktheit verhüllten. Vor diesem Sammelpunkt des Skandals spielten sich im „Salon des Réfusés“ wilde Szenen ab. Von Sadismus und Bordellmalerei war die Rede, und man verlangte, daß sein Urheber, wenn schon nicht ins Gefängnis, so doch wenigstens ins Irrenhaus gesteckt würde. Saß auf diesem unerhörten Bilde doch eine nackte Frau zwischen zwei Herren in zeitgenössischer Kleidung, wobei man nicht weiß, welches Signum schlimmer war, das des Zeitgenössischen oder das des Nackten, zumal man sich dazu noch einem gewissen Hedonismus hingab.

In der Postmoderne hingegen geriet nicht nur der Hedonismus sondern auch der Schock der Bilder zu einem Phänomen des Sekundären. Genuß und Provokation sind wesentlich eine Frage des Wahrnehmens und seiner Leidensform: Ich werde wahrgenommen. Jeff Koons liefert dafür das beste Beispiel. Im Frankfurter Kunstverein gehört er zu den fünfzehn Fotografen, die ihr „Bild des Körpers“ präsentieren. Gleich zu Anfang konfrontiert Koons den Betrachter mit seiner Inszenierung eines kleinen Frühstücks im Grünen: Auf einem steinigen Terrain, vielleicht einer Waldlichtung mit grünlichem Springquell im Hintergrund, beugt sich ein nackter Mann (Jeff himself) über eine ebensolche Frau und leckt ihre Klitoris. Helles Kunstlicht von oben streift seinen Rücken und verwandelt die Waldnymphe mit den Stöckelschuhen (Cicciolina, wer sonst) in einen fluoreszierenden Leuchtkäfer. Was das Liebesleben der Glühwürmchen zu bieten hat, ist natürlich die pure Tautologie der sexuellen Befreiung: Lust macht Spaß, und schämen tut sich nur der Schamhafte. Wäre da nicht Koons Import-Export von Bildzitaten und Versatzstücken aus Mythologie und Pornographie, hier mit dem Titel „Manet 1991“ versehen. Im Vergleich zum wirklichen Maler Manet und auf die eigene Bildqualität reduziert, bricht Koons Darstellung nach kurzer Betrachtung völlig ein, weil ihr jede Ambivalenz fehlt. Kunst ist eben nicht bloße Wunscherfüllung.

Anders Bettina Rheims. Bei ihr bleibt die Beziehung zwischen Fotografin/Betrachter und den Frauen, die in irgendwelchen anonymen Pariser Hotelzimmern posieren, eine offene Frage. Wer hier was erfüllt, ist keineswegs ausgemacht. Am deutlichsten wird dies in dem Doppelbildnis „20. février, Paris I und II“. Eine Liege mit einem rosafarbenen Überwurf, die Tapeten schlecht geklebt, eine billige Reproduktion einer barocken Landschaft an der Wand, – alles vermittelt den Eindruck purer Tristesse. Gerade sie kehrt auf merkwürdige Weise im schmollenden Blick jener jungen Frau wieder, die auf dem zweiten Bild genau dort an der Wand lehnt, wo zuvor noch die Liege stand. Ihren rosa Slip hat sie leicht heruntergerollt, so daß die Schamhaare soeben sichtbar werden. Eine Geste, welche diejenige des ganz leicht angehobenen Bettüberwurfes wiederholt und damit die Erwartung dupliziert.

Den vordergründigen Skandal der Bilder von Koons oder Rheims (es gab in Frankfurt tatsächlich einen: siehe die taz vom 11. August), den der Pornographie oder des Voyeurismus konterkariert jedoch der eigentliche Skandal des Körpers – und hier wird die Ausstellung wirklich interessant. Denn in Wahrheit verläuft die Zäsur beim Betrachten dieser Bilder ganz und gar nicht zwischen asketisch-genießender Erotik und wollüstig-reißerischem Sex. Sondern vielmehr zwischen dem Körper als „biologischer und physiologischer Voraussetzung der menschlichen Existenz“ (Peter Weiermair im Katalog) und als Subjekt wie Objekt von Nähe und Intimität. Es geht um „den kleinen und den großen Schritt“, so der Titel aller Bilder von Gundula Schulze, um die Grenze zwischen Leben und Tod. Der Gegensatz wird kaum besser faßbar als in Rainer Leitzgens nüchternen Bildern menschlicher Organe, die direkt vom Seziertisch weg für einen Organspende-Katalog bestimmt scheinen, und den im besten Sinne intimen Fotografien von Jim Long. Er hat im Steinernen Haus des Kunstvereins eine Art Kapelle zur Verfügung gestellt bekommen und zelebriert bereits in seinen Titeln eine romantische Emphase. „My lips bore the heat of four swollen hearts“ (1991) lautet einer von ihnen und zeigt hingebungsvoll den angedeuteten Kuß zwischen zwei Frauen, gerahmt von den aufmerksamen Gesichtern zweier Männer. Ohne erkennbaren Hintergrund und durch den extremem Ausschnitt bekommen Longs Bilder einerseits etwas entrücktes, andererseits zwingt das winzige Format der nur 5 x 8 cm messenden Fotografien den Betrachter, ganz nah heranzutreten und auf diese Weise an der intimen Situation teilzunehmen.

Gleichsam eine Synthese aus den Extremen findet sich in Helen Chadwicks „Self Portrait“ (1991). Auf einem überdimensionalen Medaillon halten – oder besser: bergen zwei Hände schützend ein bloßes Gehirn. Der drapierte Stoff, auf dem es liegt, wiederholt dessen gewundene Strukturen und offenbart so ein völlig durchkomponiertes Bild, wie sich noch an der Symmetrie der goldenen Ringe, an jedem Zeigefinger einer, erweist. Chadwicks barockes Selbstbildnis stellt, in durchaus ironischer Brechung, das Verhältnis zum eigenen Körper als eine analytische, aber auch narzißtische Fiktion dar.

Diese Art des Blicks findet sich in vielen der ausgestellten Arbeiten. Mal ins Groteske gewendet wie bei dem Japaner Nobuyoshi Araki, mal den Körper als Experimentierfeld benutzend wie bei Dieter Appelt, mal als Studie des eigenen Verfalls wie bei John Coplans oder den der anderen registrierend wie bei Gundula Schulze. Natürlich fehlen nicht die bekannten Namen (Robert Mapplethorpe, Cindy Sherman), aber es gibt auch weniger bekannte (Ann Mandelbaum, Rainer Leitzgen), schließlich ein paar Unsäglichkeiten wie den Liebhaber spartanischer Jünglinge Bruce Weber.

Ihre Gemeinsamkeit liegt jenseits einer zeitgemäßen und wohlgemeinten Auseinandersetzung mit Problemen wie Aids, Gentechnologie oder Apparate-Medizin, jenseits einer anspruchsvollen Reportage-Fotografie. Die Bilder zeigen den Körper fragil und fragmentiert, detailversessen und distanziert, aber sie zeigen ihn vor allem unter Zwang und als Zwang. Darin liegt die Qualität der besten Arbeiten, im Versuch, die Codierungen zu durchbrechen und – erträglich oder nicht – die Leibeigenschaft des Seins zu inszenieren.

„Das Bild des Körpers“. Frankfurter Kunstverein. Bis zum 19. September. Katalog 49 DM.