Henning und die Kaufmannsseelen

Vier Wochen vor der außerplanmäßig verordneten Neuwahl buhlen Hamburgs Parteien um ihr Wahlvolk / Dabei schwanken die Sozialdemokraten zwischen „Rot pur“ und widerwilligem Koalitionsgetüftel  ■ Von Uli Exner

Hamburgs letzter richtiger Vorzeige-Sozi läßt an Arroganz nichts zu wünschen übrig. „Könnten Sie sich das vorstellen?“ fragt Helmut Schmidt die 1.800 Zuhörer im Festzelt „Zum Ochsen“, „einen grünen Senator in Verhandlung mit einer internationalen Reederei oder einer japanischen Wirtschaftsdelegation?“ Da schüttelt sich die alte hanseatisch-sozialdemokratische Kaufmannsseele. „Ogottogott!“

Schneller als alle anderen Parteien hatten sich Hamburgs Sozialdemokraten in den Anfang Mai vom Hamburger Verfassungsgericht verordneten außerplanmäßigen Wahlkampf gestürzt, hatten die sonst so liebevoll gepflegten parteiinternen Querelen beiseite geschoben, Plakatkampagne an Plakatkampagne gereiht, Werbestand an Werbestand, Pressekonferenz an Pressekonferenz. Längst schienen sie der grüngelbschwarzen Konkurrenz weit enteilt, die sich angesichts des unerwarteten Richterspruchs zunächst wochenlang überrascht die Augen gerieben hatte. Und nun sollen sich die siegesgewohnten Hamburger Sozis mit einer möglichen Koalition befassen? Ausgerechnet jetzt, zum Auftakt der heißen Wahlkampfphase?

Kein Lächeln gönnt Henning Voscherau, seit fünf Jahren amtierendes Stadtoberhaupt, seinen Zuhörern, als er nach Helmut Schmidt das Rednerpult unter dem überdimensionalen Ochsenkopf erklimmt. Haxe, Bier, Korn. Ein wenig Passau, ein wenig norddeutsches Schützenfest. Aber keine Schmonzette, kein Witzchen kommt dem Bürgermeister über die Lippen, noch nicht einmal ein demagogischer Seitenhieb gegen die Konkurrenz.

Eine „Mixtur aus Verbissenheit und pomadigem Frohsinn“, hat der Spiegel Voscherau unlängst attestiert. Verbissenheit pur ist angesagt an diesem Donnerstagabend. Kein Grund zum Schmunzeln. Lenkt doch nur ab vom Ernst der Lage. Da paßt die Große-Staatsmann-Geste doch viel besser. „In stürmischen Zeiten ... durch schweres Wasser ... der Dampfer Hamburg ... ich warne...!“ Die Augenbrauen bis zum Anschlag zusammengezogen, die Lippen zwei dünne Striche, die linke Hand zur Faust geballt, geöffnet, geballt, hämmert Voscherau seine Botschaft Wort für Wort ins Publikum. „Eine – Koalition – schadet – Ihnen – selbst.“ Oder auch, in die nur vertraulicher klingende zweite Person wechselnd: „Ihr selbst müßt es auslöffeln“, ... wenn es denn doch nicht langt zur absoluten Mehrheit.

Denn alle bisherigen Wahlprognosen gehen davon aus, daß die SPD ihre dünne Ein-Sitz-Mehrheit am 19. September nicht verteidigen kann und einen Koalitionspartner braucht. Gut 42 Prozent geben die Umfragen den Sozialdemokraten, 6 Prozent weniger als vor zwei Jahren. Die CDU müßte sich freuen, die 35 Prozent von damals zu wiederholen, die Grünen liegen bei 10 Prozent. Eine Zahl, die im auf seine demokratischen Traditionen so stolzen Hamburg inzwischen auch den Rechtsextremen zugetraut wird. Allerdings treten an der Elbe sowohl DVU als auch „Republikaner“ an, so daß das zweite große Wahlziel Voscheraus, „die braune Brut, die den Kopf wieder reckt“, aus der Bürgerschaft rauszuhalten, noch erreichbar scheint. Vor der Rathaustür könnte sich auch die FDP nach der Wahl wiederfinden. Denn sie wird derzeit eher auf 4,9 als auf 5,1 Prozent taxiert.

Aber selbst wenn sich die Freidemokraten noch einmal über die Hürde hieven können, dürfen sich die einstigen Lieblingskoalitionspartner der Hamburger Sozis wohl kaum Chancen ausrechnen, erneut ins sogenannte „Senatsgehege“ des Rathauses einzuziehen. Allein der Gedanke daran, so ein hochrangiger SPD-Mann, bereite vielen seiner Parteifreunde inzwischen ein „körperliches Unwohlsein“.

Zu den so Gepeinigten gehört auch der Bürgermeister selbst, was die Sache für die FDP nicht einfacher macht. „Wir dürfen diese Partei nicht an die Schaltstellen der Macht lassen“, verkündet Henning Voscherau bei jeder sich bietenden Gelegenheit. „Diese Partei ist ohne jede soziale Wurzel, ohne jedes soziale Gefühl.“ Ende einer Durchsage, die nur äußerst schwer zu revidieren sein dürfte.

Dann vielleicht lieber die Christdemokraten? „Nur wenn es überhaupt nicht anders geht.“ Die Dementis kommen den Sozialdemokraten schneller über die Lippen, als die Frage überhaupt zu Ende formuliert werden kann: eine Große Koali...? Die Union? „Mit ihren notorisch undemokratischen Methoden?!“ Helmut Schmidt hat erhebliche Bedenken.

Dirk Fischer arbeitet. Angestrengt, den Blick ganz selten nur vom Manuskript lösend, versucht der CDU-Bürgermeisterkandidat, seine Parteifreunde aus der Wahlkampf-Lethargie zu wecken. Fischer, der in den vergangenen Wochen gelegentlich den Eindruck vermittelt hat, er würde sich um einen Staatsratsposten unter Voscherau bewerben, liefert am Samstag in der Hamburger Handwerkskammer solides Unions- Fachwerk ab: Gegen die Wohnungsnot, gegen die Kriminalität, gegen die Faulenzer in der sozialen Hängematte, gegen die „Poller und Nasen, Abmarkierungen erfüllen den gleichen Zweck“. Die Aufzählung der Stadtstaat-Probleme gelingt dem Kandidaten beim Wahlparteitag fast vollständig. Begeisterung löst er damit bei seinen Parteifreunden nicht aus.

„Der Kreis Wandsbek kann sich auch sonst mal treffen“, tadelt der Versammlungsleiter, als formale Bedeutung der Parteitagsrede und Aufmerksamkeit für den Vortragenden allzu weit auseinanderzudriften drohen. Fischer rackert weiter. Detailgetreu, in jedem Moment bemüht, Sachkompetenz zu beweisen. „Fisher and facts“ hat er über die kleinen Fibeln zu den Schwerpunkten seines Programms schreiben lassen. Das mag man dem hauptamtlichen Verkehrsexperten der CDU-Bundestagsfraktion abnehmen. Mit der plakatierten Wahlkampflosung „Neue Ideen“ fällt das nach dieser Rede schon schwerer. Ideen? Fehlanzeige. Statt dessen ein holpriger Vergleich: „Kommunale Demokratie ist für die SPD ein Schreckgespenst wie für einen deutschen Biertrinker ein englischer Pub.“ Na denn Cheers. Langsam, zögerlich erheben sich die Parteitagsdelegierten von ihren Plätzen. Endlich. Standing Ovations für Dirk Fischer. Standing Ovations für den Mut der Verzweiflung.

Er hat sich nicht gerissen um die Rolle als Herausforderer. Im Gegenteil: Noch Wochen nach dem Neuwahl-Urteil hat Fischer nach geeigneteren Bürgermeister-Anwärtern gesucht. Bis zuletzt hat er darauf gehofft, doch noch Birgit Breuel an die Elbe zurückzuholen. Erfolglos. Wer verliert schon gerne freiwillig? Spitzenkandidat einer Dauer-Oppositionspartei. Und dann auch noch bei einer Wahl, die erst nötig geworden ist durch die „innerparteilichen Demokratie- Defizite“ der Union. Nur weil man, peinlich, peinlich, vor zwei Jahren „undemokratisch“ die eigenen Listen bestückte.

Da schüttelt sich auch Bürgermeister Voscherau medienwirksam. Koalieren mit der CDU, die einem diese Suppe erst eingebrockt hat? „Ich setze auf Rot pur“, donnert Voscherau unverdrossen ins „Ochsen“-Publikum. Oder sollte sich der Senatschef, der sich in bewußter Abgrenzung zu den Brandt-Enkeln so gerne als Schmidt-Neffe bezeichnen läßt, doch noch an den Gedanken gewöhnen müssen?

Bei der immer noch GAL abgekürzten Hamburger Sektion von Bündnis 90/Die Grünen geben sich in diesen Tagen jedenfalls schon mal Rot-Grün-Experten aller Bundesländer die Klinke in die Hand. Haushaltsexperten der hessischen Grünen halten Vorträge über die bitteren Sachzwänge knapper öffentlicher Kassen, WissenschaftlerInnen referieren vor den Elb-Grünen über „Erfahrungen aus rot-grünen Stadtstaaten“, MinisterInnen und (Ex-)SenatorInnen aus rot-grünen Großstädten und Landesregierungen plaudern über ihre Koalitionsverhandlungs-Erfahrungen. Ein paar Lektionen Joschka Fischer, drei, vier Einheiten Ralf Fücks, ein Vortrag mit Michaele Schreyer zum Thema „Sinnvolle grüne Ressortzusammensetzungen“ und Arbeitsgruppen, Arbeitsgruppen, Arbeitsgruppen.

Derer 18, von „Abfall“ über „Wirtschaft und Hafen“, „Immigranten und Flüchtlinge“ bis hin zu „Verwaltungs- und Verfassungsreform“ sollen Kandidaten, Vorständlerinnen und Basis fit machen für den möglichen Verhandlungsmarathon. Selbst ein gerade noch abgewendetes Werbekampagnen- Desaster kann die grüne Vorfreude nicht trüben. Alles bereitet sich vor auf den großen Moment, in dem GAL-Spitzenkandidatin Krista Sager vorspricht beim künftigen Senatschef.

Doch wie der heißen wird, steht angesichts der – seit der vergangenen Woche allerdings schon weniger heftigen – Grünen-Allergie des Amtsinhabers noch nicht fest. Die GAL, so lassen deren KandidatInnen zumindest schon mal durchblicken, könnten sich das durchaus vorstellen mit Voscherau. Besser jedenfalls als mit so manchem als rot-grünen Alternativ-Bürgermeister ins Gespräch gebrachten SPD- Parteilinken. Die, so das grüne Kalkül, wären im Koalitionsalltag eher unsichere Kantonisten, da sie sich nicht einmal der Mehrheit in ihrer eigenen Partei sicher sein könnten. „Dann lieber einen vom rechten Flügel“, erklärt ein GALier, ganz hanseatische Kaufmannsseele, „auf die kann man sich wenigstens verlassen.“