Die Angst ist subtiler geworden

Ein Jahr nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen: Bei Nieselregen observieren Polizei und Autonome die Neonazi-Szene / Veranstaltungen „zur Glorifizierung der Krawalle“ sind verboten  ■ Von Heide Platen

Ruhig ist es am Wochenende im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Polizeiwagen patrouillieren in kurzen Abständen durch die Straßen des überschaubaren Viertels. Weithin leuchtet das gelbe Blütenrelief auf der Seitenwand des langgestreckten, elfgeschossigen Wohnblocks an der Mecklenburger Allee, das dem Haus, das am 24.August 1992 in Flammen stand, seinen poetischen Namen gab: Sonnenblumenhaus. Aufgang Nr.18 ist wieder instandgesetzt und leuchtet mit weißer Fassade.

Das stört Jens und seinen Freund ganz erheblich. Da werde wieder Geld rausgeschmissen für „die Fidschis“. Überhaupt gehe „viel zu viel gutes deutsches Geld in so Scheißländer“. Jens kommt aus Lichtenhagen, ist zwischenzeitlich nach Westdeutschland übergesiedelt, verbringt seine freie Zeit, „aber jede Minute“, in der alten Heimat. Darauf, daß er bei den Krawallen im vorigen Jahr „mitgebombt“ hat, ist er stolz. Jens und sein Freund sind Familienväter, ihre Söhne jeweils gerade vier Jahre alt. Die Namen der einschlägigen Markenkleidung können sie von Nike bis Diesel in rasantem Tempo herunterbeten. Das leisten sie sich. Beide haben Arbeit.

Und dann klagen sie sich gegenseitig ausgiebig ihr Leid darüber, daß andere Eltern bei Elternabenden im Kindergarten die 200-Mark-Schuhe der Sprößlinge als „angeberisch“ rügten. Die sollen sich nicht aufregen. Oder wenn, dann lieber über die Gewalt in den Familien und die Kriminalität. Jens und sein Freund mit dem Henna im Haar und dem Ohrring sind, meinen sie, nicht nur „doitsch“, sondern auch kritische und bewußte Verbraucher. Die Zeit der Randale sei „gut gewesen“, das sei für sie aber „jetzt nichts mehr, vorbei – vielleicht“.

Vor Nr.19 stehen noch die Baugerüste, im Innern wird gewerkelt, sind die Brandspuren noch nicht übertüncht, hängt verbrannte Tapete an den Wänden, wellt sich die damals erhitzte Farbe. Hierher kehrten die ersten VietnamesInnen schon kurz nach dem Anschlag zurück. Der enge Fahrstuhl endet im 10. Stock. Sind die Flüchtenden damals wirklich über eine solche steile Metalleiter nach oben aufs Dach geflohen? Die ins Freie führende Tür hängt verbogen in den Angeln. Erinnerungen an dramatische Bilder verblassen, die Beklemmung in Lichtenhagen bleibt. Eine Eisenstange zum Aufbrechen der Tür rettete damals das Leben der von Flammen und Rauch eingeschlossenen 100 Menschen.

Die Vietnamesen wollen nicht immer wieder an den Haß, an die Angst in den Augustnächten vor einem Jahr erinnert werden. „Nein“, sagen sie leise und vorsichtig, „das Leben muß doch weitergehen.“ Einer von ihnen träumt inzwischen sogar von einem Zeichen der Versöhnung, der Eröffnung einer deutsch-vietnamesischen Begegnungsstätte, offen auch für jene Nachbarn, „die uns damals töten wollten“. Dafür stehen die Zeichen nicht ganz so schlecht. Viele Lichtenhagener sind in sich gegangen. Gegen die fleißigen Vietnamesen hätten sie eigentlich „nie etwas gehabt“, nur gegen die „Zigeuner“. Und Beifall klatschen, wenn Brandsätze gegen Menschen fliegen, das, sagen sie etwas verschämt, „hat der Stadt doch sehr geschadet“.

Wolfgang Richter, Rostocks Ausländerbeauftragter, der für seinen Einsatz vor einem Jahr das Bundesverdienstkreuz erhielt, hatte am Vortag gesagt, er sehe es gar nicht gerne, „wenn die Medien zum Jahrestag wieder durch den Stadtteil strömen“. Er wünscht sich diese Woche leise und nachdenklich. Da ist er sich mit der Stadt einig. Eine stille Gedenkstunde im Rathaus ist geplant, sonst kaum etwas. Rostock, betont er immer wieder, habe weder bessere noch schlechtere Menschen als andere deutsche Städte auch.

Den jungen Männern am Kiosk sind die Krawalle schnuppe. Sie sinnieren gerade darüber, daß sie mit ihren Freundinnen auch gerne mal in die Wanne wollen. Alles ist eben wie anderswo, und an den Grünanlagen im Zentrum, wo die Rosen blühen, hübscher, da sind sie sich sicher, „als irgendwo in Herne“.

Inzwischen weht ein grauer Nieselregen durch die Straßen. Immer wieder tauchen kleinere Gruppen und Jugendliche in Springerstiefeln, Bomberjacken, einige Glatzen auf, verschwinden auf den Wegen und um die Ecken wieder. Einige reisen mit der kleinen Stadtbahn in den Nachbarkurort Warnemünde und flanieren dort mitten im Touristengewimmel höchst geheimnisvoll, sehen sich immer wieder um, sichern sich gegenseitig in Grüppchen. Und das ist eben doch anders in Rostock und Lichtenhagen, macht unsicherer, schafft mehr Angst als eben zum Beispiel in Herne. Obwohl die martialischen Jungmänner eigentlich nichts tun als plump durch die Menge zu stampfen. Hinter ihnen wird getuschelt. Die Spannung ist unterschwellig.

Im Jugendzentrum JAZ in der Rostocker Innenstadt ist die Stimmung, den Umständen entsprechend und durch einige Kenntnis der Szene untermauert, vorerst entspannt. Den ganzen Tag über haben die jungen Leute die Neonazis nicht aus den Augen gelassen. Seltsame Formationen entstanden da: Neonazis vorne, Autonome hinterher und umgedreht. Auch deshalb, vermuten die JAZler, „trauen die sich dieses Jahr nicht mehr so viel auf der Straße“. Dafür aber schaffen sie es, ihr Propagandamaterial gezielt an den Schulen zu verteilen und haben da „eine bedrückende Resonanz“.

Oberbürgermeister Kilimann (SPD) hat seine Besorgnis in den beiden Lokalzeitungen amtlich veröffentlicht. Innensenator Peter Magdanz unterzeichnete eine „Allgemeinverfügung“, die Versammlungen, die „der Glorifizierung der ausländerfeindlichen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen vom August 1992 dienen“, für die Zeit vom vergangenen Samstag, sechs Uhr, bis zum kommenden Sonntag um 24 Uhr verbietet. Dem SPDler Magdanz werfen Kritiker, neben dem zurückgetretenen Innenminister Kupfer, Versagen vor. Intern wurde bekannt, daß er die damals auf der Wiese vor der Zentralen Aufnahmestelle kampierenden Rumänen nicht unterbringen wollte. Er habe in einer Sitzung gesagt, die riefen dann nur zu Hause an und es kämen noch mehr. Der Initiativkreis „Keine Gewalt gegen Ausländer“, das JAZ und Videofilmer haben inzwischen den Dokumentarfilm „Wahrheit liegt in Rostock“ hergestellt, der morgen im Festsaal des Rathauses gezeigt wird. Sie werfen den Verantwortlichen vor, daß ein Jahr danach immer noch kein vollständiger Untersuchungsbericht darüber vorliegt, warum sich der Rechtsstaat seinerzeit „über mehrere Stunden zurückzog“.

Der evangelische Landespfarrer Fred Mahlburg gehört zu den Kritikern der Politik, denen er „ein Pokerspiel“ um Wählerstimmen in der Asylfrage vorwirft. Er sagte in der Lokalzeitung, daß Rostock sich hier wie anderswo immer noch wiederholen könne: „Wir haben einen deutlichen Nachholbedarf in der Begegnung mit Ausländern.“ Das kommt bei dem CDU-Mann Zöllick, der sich auch Gedanken über die Angst der Bürger macht, anders rüber. Der sinnierte, daß dafür bei nur noch rund 2.000 AusländerInnen doch eigentlich gar kein Grund mehr vorhanden sei. Er kam auf den tiefgehenden Gedanken, daß sie bei so geringer Zahl eben „mehr auffallen“.