Alle Regierungen seit Atatürk schuldig

■ Mit Aziz Nesin sprach Osman Okkan über den gefährdeten Laizismus und seine Versöhnung mit Salman Rushdie

Osman Okkan: Herr Nesin, wie ist Ihre Begegnung mit Salman Rushdie verlaufen? Was haben die zweitägigen Gespräche gebracht?

Aziz Nesin: Für mich waren diese Tage am Rhein beeindruckend. Zum ersten Mal seit Jahren konnte ich mich unerkannt in einer kleinen Stadt erholen. Dann kam mein Treffen mit Salman Rushdie. In der Vergangenheit gab es viele Mißverständnisse zwischen uns; es kam ja zu einem öffentlichen Zerwürfnis. Das haben wir alles beiseite gelegt. Es gab so viele Fehler in den Briefen, die seine Agentur nach Istanbul schrieb. Diese Briefe waren in einem sehr arroganten, fast aggressiven Stil verfaßt. In Kolonialherrenstil! Viele meiner Reaktionen sind auf diesen herabsetzenden Stil in den Briefen zurückzuführen, auch wenn die Briefe nicht direkt an mich gerichtet waren. Andererseits wußte ich natürlich nicht, daß Salman Rushdie völlig falsch über meine Rolle bei der Tageszeitung Aydinlik informiert worden war. Jetzt, zum Schluß unserer Begegnung, habe ich, was uns beide angeht, ein gutes Gefühl, denn ich messe unserer Zusammenarbeit eine große Bedeutung bei: Eine politische Bedeutung im Kampf gegen den Fundamentalismus und für die Kräfte der Aufklärung. Das gilt nicht nur für die Türkei oder Indien. Ich denke vor allem an die noch spärlichen Kräfte, die sich in den arabisch-islamischen Staaten und sogar im Iran für die Aufklärung der breiten Masse einsetzen. Ich hoffe, daß unser Treffen eine Signalwirkung für sie haben wird. Denn nach wie vor glaube ich an die politische Wirkung der Bücher.

Wie kam es aber zu diesen Mißverständnissen und Fehlinformationen im Vorfeld Ihrer Begegnung mit Rushdie?

Schon kurz nach der Bekanntgabe der Fatwa durch den Iran hatten wir im Vorstand des türkischen Schriftstellerverbandes einen Beschluß gefaßt, die „Satanischen Verse“ in der Türkei herauszugeben. Nachdem ich aus dem Vorstand ausschied, kümmerte sich niemand um die Verwirklichung dieses Beschlusses. Ich habe es einige Male angemahnt. Dann wurde eine Reihe von türkischen Intellektuellen nach und nach durch Fundamentalisten ermordet. Auch danach geschah nichts. Als auch der türkische Journalist Ugur Mumcu im Januar diesen Jahres einem Bombenanschlag zum Opfer fiel, forderte ich erneut den Schriftstellerverband auf, das Buch herauszugeben. Dann veröffentlichte ich auch ein bis dahin geheimes Regierungsdekret, in dem nicht nur die Übersetzung und die Veröffentlichung des Buches verboten wurden, sondern auch die Einfuhr der im Ausland erschienenen Ausgaben der „Satanischen Verse“. Gleichzeitig wandte ich mich an die Agentur Salman Rushdies in England, um eine Übersetzung und Veröffentlichung vorzubereiten. Dann kam es eben zu einem sehr unerfreulichen Briefwechsel der Agentur in London und der Agentur in Istanbul. Im Mai, als die Tageszeitung Aydinlik zu erscheinen begann, kam in der Redaktion die Idee auf, einige Abdrucke aus den „Satanischen Versen“ in der Zeitung zu veröffentlichen. Ich befand mich gerade im Ausland, als die Redaktion beschloß, einige Auszüge zu übersetzen und in der Zeitung abzudrucken. Als ich von meiner Auslandsreise zurückkam, wurde ich mit den Anschuldigungen Rushdies konfrontiert, ich sei an den Veröffentlichungen schuld. Ich mußte die entstandenen Fehler korrigieren und mich zur Wehr setzen. Dann aber kam mein Freund Günter Wallraff in die Türkei und erklärte mir, wodurch die Mißverständnisse zwischen uns entstanden sind. Der Schriftstellerverband in der Türkei konnte sich immer noch nicht dazu entschließen, die Herausgeberschaft der „Satanischen Verse“ zu übernehmen. Aber einem Aufruf zur kollektiven Herausgabe folgten über 2.000 Intellektuelle, darunter viele Schriftsteller, Künstler, aber auch Anwälte, Lehrer und sogar Politiker. Sie wollen das Buch gemeinsam mit mir veröffentlichen. Bei dieser Begegnung kamen wir mit Rushdie und Wallraff überein, von Rushdie zunächst ein Kinderbuch in der Türkei zu veröffentlichen. Für die Herausgabe der „Satanischen Verse“ werden wir den Abschluß der doch etwas schwierigen Übersetzungsarbeit abwarten.

Ihre Bemühungen um die Herausgabe der „Satanischen Verse“ in der Türkei hat also einen direkten politischen Hintergrund?

In ihrer Verfassung behauptet die Türkei, ein laizistischer Staat zu sein. Unter den auf Atatürk folgenden Regierungen wurden aber immer wieder Teile dieser laizistischen Ordnung abgebaut. Bei jedem Regierungswechsel holten sich die reaktionären Kräfte immer mehr alte Rechte zurück; Rechte, die unter dem Kalifat gültig waren und dann nach der Gründung der Republik abgeschafft wurden. Immer mehr gelang es ihnen, die laizistischen Prinzipien auszuhöhlen. Einer ihrer ersten und größten Erfolge war die Wiedereröffnung der Lyzeen für islamische Priester und Hodschas. Das wurde strategisch sehr geschickt gemacht. Zuerst forderte man, daß diese Schulen nur für die Imams und Hodschas geöffnet würden, weil es für die gläubigen Muslime nicht genügend Imams gebe. Jede Regierung hat dann auf Drängen der religiösen Kräfte die Zahl der Imam- und Hodscha-Schulen kräftig erhöht, so daß wir heute in der Türkei über doppelt so viele Imam-Schulen verfügen wie etwa über Berufsschulen. Einige Jahre später wurde dann ein Gesetz verabschiedet, das erlaubte, daß die Absolventen dieser Schulen auch an jeder anderen Hochschule studieren durften. Das heißt, sie hatten nun auch Zugang zu allen anderen Berufen und eben nicht mehr nur zum Priesteramt. So wurde es möglich, daß sie im Laufe der Zeit die staatlichen Strukturen unterwandern konnten. Heute trifft man in allen Ministerien Massen von Absolventen dieser reaktionären Schulen. So ist es den Fundamentalisten im Laufe der Jahrzehnte gelungen, den türkischen Staat zu unterwandern. In der Türkei haben längst nicht mehr die Laizisten das Heft in der Hand, auch wenn eine fundamentalistische Ordnung noch nicht errichtet worden ist. Aber die Richtung ist eindeutig eingeschlagen. Die Laizisten geraten immer mehr ins Hintertreffen. Deshalb behaupte ich auch, daß an dem Massaker in Sivas und an allen anderen Verbrechen, die einen religiösen Hintergrund haben, alle Regierungen seit Atatürk schuld sind. Ich habe es in den Interviews in der Türkei immer wieder gesagt, und ich wiederhole es auch jetzt: Eine Regierung, die die Herausgabe und sogar die Einfuhr der „Satanischen Verse“ verbietet, ist mitschuldig an dem Massaker in Sivas.

Wie macht sich in der Türkei der Einfluß der Fundamentalisten im Alltagsleben bemerkbar?

Man kann heute in der Türkei während der Fastenmonate, während des Ramadan, außerhalb der großen Städte Istanbul, Ankara und Izmir auf der Straße keine Zigarette mehr rauchen oder Wasser trinken oder öffentlich irgendwo essen, weil alles geschlossen ist. Selbst in den Großstädten gibt es Stadtviertel, wo sehr genau auf diese Regeln geachtet wird, so daß man sich dort als Ungläubiger kaum frei bewegen kann. In diesem Zusammenhang muß auch das Massaker in Sivas gesehen werden. Keineswegs war es das erste Verbrechen der Islamisten. Nur schaute diesmal die Welt auf Sivas, weil da auf so brutale Weise so viele Menschen auf einmal umgebracht wurden. Genau an diesem Ort gab es aber auch schon vor fünfzehn Jahren ein Massaker gegen die Aleviten. Später auch in den Städten Maraș und Çorum. Diese Schreckenstaten beweisen ganz deutlich, daß die Fundamentalisten mittlerweile innerhalb des Staates über genügend Gewalt verfügen, um solche Pogrome zu inszenieren.

Der Kampf der Fundamentalisten um die politische Macht befindet sich also Ihrer Meinung nach in einer Entscheidungsphase?

Der wichtigste Kampf, der entscheidende Kampf der reaktionären Kräfte geht heute um die Armee. Bisher wurden aus der Armee jedes Jahr Hunderte von Offizieren, Unteroffizieren, ja, sogar Offiziere höheren Grades entfernt, weil sie als Fundamentalisten galten. Nur in diesem Jahr nicht. Die Armee ist für die Fundamentalisten wichtig, weil ja in der Türkei in den letzten dreißig Jahren die Staatsstreiche immer wieder von ihr inszeniert wurden. Die Hoffnungen der Fundamentalisten sind darauf gerichtet, mit ihren bisherigen Erfahrungen in anderen Staatsstrukturen jetzt auch die Armee zu unterwandern, um dann mit einem Staatsstreich an die Macht zu gelangen. Im Ausland werde ich oft von Kollegen und Journalisten gefragt, ob die Türkei in einigen Jahren zu einem zweiten Iran werden könnte. Ich mag Prophezeiungen nicht. Ich sehe aber drei große Gefahrenmomente in der Türkei. Zum einen gibt es starke, finanzkräftige Kreise in der Türkei, die an Saudi-Arabien orientiert sind. Ihr wirtschaftlicher Einfluß nimmt ständig zu. Zahlenmäßig größer sind die Kräfte, die vom Iran abhängig sind. Es gibt sehr konkrete Hinweise, daß diese Kräfte hinter fast allen religiös motivierten Verbrechen der letzten Jahre stehen. Die heraufziehende Gefahr eines Fundamentalismus wird größer, weil die westlichen Staaten, die selber laizistisch strukturiert sind, diese Gefahr bewußt oder unbewußt fördern. Jene Staaten, die durch ihre eindeutig an ökonomischen Interessen orientierte Außenpolitik die fundamentalistischen Strömungen nicht nur dulden, sondern fördern, würde ich als imperialistische Staaten bezeichnen. Sie handeln nur in ihrem ökonomischen Interesse, zu ihrem eigenen Profit und unterlassen jegliche Hilfestellung gegen die fundamentalistische Gefahr in Peripheriestaaten wie der Türkei. Ganz im Gegenteil begünstigen sie sogar noch die reaktionären Kräfte. Denken Sie nur an den religiösen Fanatiker Cemalettin Kaplan, der in Köln wohnt. Ich kann die Freiheiten, die ihm eingeräumt werden, längst nicht mehr mit der Religions- oder Redefreiheit vereinbaren. Das ist eine falsch verstandene Toleranz. Er ruft doch ganz offenkundig zu Gewalttaten auf und stellt in Massenversammlungen seine künftigen Soldaten auf, die er in den „Heiligen Krieg“ schicken will. Stellen Sie sich im Vergleich dazu einmal vor, in der Türkei würde sich ein Verband etablieren, der die Rekrutierung nazistischer Gewalttäter auf seine Fahnen geschrieben hätte.

Aus dem Türkischen von Osman Okkan