Die freieste Presse am Golf

■ Jemenitische Parlamentsdebatten sind Videohits auf Saudi-Arabiens Schwarzmarkt

Im Jemen werden heute 150 Zeitungen und Zeitschriften publiziert – die meisten von ihnen wurden nach der Wiedervereinigung des konservativen Nordens mit dem marxistischen Südjemen im Mai 1990 gegründet. Mit seinen nunmehr 14 Millionen Menschen ist der Jemen heute das bevölkerungsreichste Land der arabischen Halbinsel. Und trotz seiner fast völlig bankrotten Wirtschaft hat das Land die freieste Presse am Golf.

„Als die Zensur der jemenitischen Presse aufgehoben wurde, glaubten viele, daß das nur eine Art Prager Frühling in Sana'a wäre. Aber die Wirklichkeit hat uns überzeugt. Die Presseleute haben sich mit großer Begeisterung in die Freiheit gestürzt und sogar das letzte Tabu angerührt, nämlich eine direkte Kritik an Präsident Ali Abdullah Saleh“, sagt ein westlicher Diplomat. Beide Hauptparteien, der Allgemeine Volkskongreß (PGC), Vehikel der Einparteienherrschaft von Präsident Ali Abdullah Saleh im Norden, und die Jemenitische Sozialistische Partei (YSP), die den Süden des Landes mit eiserner Hand regierte, einigten sich im Wiedervereinigungsvertrag auf eine Liberalisierung der Presse. Im Südjemen hatte schon das Ende der Wirtschaftshilfe aus der Sowjetunion und andere politische Lehren, die die Führung der YSP aus dem Zusammenbruch ihrer traditionellen Unterstützer in Osteuropa zu ziehen gezwungen war, im Vorfeld der Wiedervereinigung zu einer Lockerung der Zügel für die Presse geführt.

Ein winziges Büro in Aden, der früheren Hauptstadt des Südens, ist die Heimstätte der Zeitung Al-Ayam, geleitet von Tamam Hisham Bashrahil. Sein Vater gründete die Zeitung 1958, als Aden noch britische Kolonie war und der drittgrößte Hafen der Welt. Als die Briten 1967 abzogen, wurden sämtliche Lizenzen unabhängiger Zeitungen aufgekündigt, und der Süden kam unter die zunehmend dogmatischer werdende Kontrolle der Sozialistischen Partei. Al-Ayam verschwand für 24 Jahre von der Bildfläche. Anfang 1990 wurde wieder angedruckt.

„Das Presse- und Publikationsgesetz schränkt die Berichterstattung über Sicherheits- und Militärangelegenheiten nach wie vor ein. Dabei scheinen die privaten Zeitungen strikter behandelt zu werden als die parteieigenen. Aber es gibt keine Zensur mehr, und wir leben nicht mehr in Angst und Schrecken“, sagt Bashrahil. Al-Ayam ist die meistgelesene Zeitung in Aden; die Stadt weist die niedrigste Analphabetenrate des Landes auf. Bashrahil ist besonders stolz auf den engagierten Journalismus seiner Zeitung, zu dem beispielsweise eine Kampagne zur Aufklärung der Regierungsverbrechen an den „Verschwundenen“ und eine hartnäckige Recherche zur Korruption der jetzigen Regierung gehören. Publizieren ist in Aden jedoch weiterhin nicht so einfach. Die einzige Druckerei der Stadt gehört dem Staat. Im April streikten die Drucker aus Protest gegen zwei Monate ohne Lohn – ausgerechnet eine Woche vor den ersten Mehrparteienwahlen der neuen Republik.

Viele meinten damals, daß der Streik eine „politische Verschwörung“ gewesen sei, die den Oppositionsparteien besonders in Aden vor den Wahlen den Zugang zur Öffentlichkeit beschneiden sollten. Auch Omar al-Jowi, Redakteur der Zeitung der Tagammua- Partei, einer sozialistischen Splittergruppe, ist dieser Auffassung. „Die Meinungsfreiheit ist das Verbindungsstück zwischen allen anderen demokratischen Freiheiten. Wenn ich also die Leute nicht erreichen kann, sind auch die anderen Freiheiten nicht wirklich in Kraft. Unter solchen Bedingungen eine Zeitung zu produzieren ist nicht so einfach. Und Papier ist teuer. Selbst der Druck kostet in Aden mehr als in England.“

In der Hauptstadt Sana'a ist die materielle Infrastruktur sehr viel besser als in Aden. Es gibt drei große, wenn auch staatliche, Druckereien und einige kleine in privater Hand. Auch hier jedoch leidet die neue Presse des Landes noch an Kinderkrankheiten. Nur vier Tageszeitungen, alle staatlich, können wirklich erscheinen. Und die meisten Publikationen akzeptieren Regierungssubventionen, um in Gang zu kommen, etwa 110 US- Dollar pro Monat in Jemens enorm abgewerteter Währung.

Die jemenitische Presse kann in drei ungefähr gleich große Fraktionen aufgeteilt werden: die parteieigene Presse von ungefähr vierzig Parteien, die regierungseigenen Zeitungen, die Präsident Salehs Partei präsentieren und der sich seit ihrem Wahlsieg die meisten Kader der Sozialistischen Partei angeschlossen haben, und die unabhängigen Zeitungen, nicht selten Sprachrohr reicher Jemeniten; unter ihnen jedoch findet man auch einige wirklich unabhängige Stimmen.

Zwar sichert das jemenitische „Presse- und Publikationsgesetz“ von 1990 zu, daß „die Presse unabhängig sein soll und volle Freiheit genießt in der Ausübung ihrer Pflicht“, einschließlich der Freiheit, ihre Informationsquellen zu schützen – dennoch gibt es Grenzen. Dazu zählt vor allem alles, was geeignet ist, den „islamischen Glauben und seine hohen Ideale herabzusetzen oder religiöse und humanistische Glaubenssätze verächtlich zu machen“. In einem weiteren Paragraphen wird alles verboten, was Diskriminierung aus ethnischen, rassistischen und regionalistischen Gründen hervorrufen könnte, die Vorfahren einer Gruppe verächtlich macht oder zu Uneinigkeit und Abfall vom Glauben anstiftet. Während das Gesetz diese Vergehen nicht weiter präzisiert und Mißbrauch damit nicht ausschließt, ist jetzt das Gericht die entscheidende Instanz und nicht der Informationsminister, der früher das absolute Recht zum Verbot von Publikationen hatte.

Die Restriktionen gegen kritische Äußerungen über den Präsidenten haben seit der Wiedervereinigung dramatisch zugenommen. Das Gesetz spezifiziert, daß „konstruktive Kritik“ erlaubt sei, führt diese Bestimmung jedoch nicht weiter aus. Die jemenitische Kultur ist von offenen Debatten und Diskussionen geprägt, selbst vor der Kritik gesellschaftlich hoch angesehener Persönlichkeiten scheut man dabei traditionell nicht zurück. Diese Haltung spiegelt sich auch in der neuen Presse – aber das psychische Erbe der Diktatur ist ebenfalls deutlich, vor allem in der Haltung der Journalisten selbst. Saad Salah Khalis, Kulturredakteur der englischsprachigen Yemen Times, schrieb in einem Kommentar Anfang des Jahres: „Es gibt hier Autoren, die nach Zensur für andere Schreiber und Zeitungen rufen. Sie vergessen, daß sie damit den Tyrannen provozieren, der im Kern in jeder Regierung steckt.“

Eine Bestimmung des Pressegesetzes hat dafür gesorgt, daß persönliche Angriffe fast gänzlich unterbleiben: jeder, der in einem Artikel erwähnt wird, ob kritisch oder nicht, hat das Recht auf eine Gegendarstellung, solange die Chefredaktion seine Anmerkung innerhalb von drei Monaten nach Erscheinen des Artikels erhält. Artikel 62 besagt, daß die Gegendarstellung oder Korrektur „in gleicher Aufmachung, Größe und Sprache“ zu veröffentlichen ist. Dieses Recht ist automatisch und bedarf keiner Gerichtsentscheidung.

Zwar sind die Printmedien ein wichtiges Barometer für die Meinungsfreiheit im Jemen, das 60prozentige Analphabetentum des Landes jedoch macht Fernsehen und Radio automatisch zu den wichtigeren Medien – und beide sind unter staatlicher Kontrolle. Dennoch hat eine Einrichtung im Fernsehen eine ungeheuer wichtige Rolle gespielt für die Entwicklung von Öffentlichkeit und freier Debatte im Land: die regelmäßig und in voller Länge im Fernsehen übertragenen Parlamentsdebatten. Selbst jenseits der Landesgrenzen, nämlich in Saudi-Arabien, sind sie zu einem begehrten Gut geworden: Saudis, die im eigenen Land um eine demokratische Dikussion betrogen werden, kaufen sich auf dem Schwarzmarkt Videokassetten vom jemenitischen Parlament, einem arabischen Parlament, in dem lebhaft und kontrovers diskutiert werden darf. Deborah Pugh

Die Autorin lebt als freie Journalistin in

Kairo.